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Warum wir das Schlafen neu lernen sollten

Warum wir das Schlafen neu lernen sollten

Dass viele von uns ein verkorkstes und wenig hilfreiches Verhältnis zum Schlaf haben, kann zu einem großen Teil darauf zurückgeführt werden, wie wir das Thema vor vielen Jahren kennengelernt haben. Eltern von Kleinkindern neigen dazu, es mit dem Schlaf sehr genau zu nehmen. Sie bevorzugen frühe Schlafenszeiten, gönnen ihren Babys viele Nickerchen über den Tag verteilt, sie denken viel darüber nach, wie sie unseren Raum gut verdunkeln können, sie erkennen schnell, wenn unsere schlechte Laune auf ein Defizit an Ruhe zurückzuführen ist; und während sie in einigen Bereichen nachsichtig sein mögen, sind sie wahrscheinlich völlig unnachgiebig, wenn es um unseren Schlaf geht: Sieben Uhr abends Licht aus, ohne Wenn und Aber.

Nichts davon ist auch nur ansatzweise selbstlos: Müde kleine Kinder sind ein Alptraum. Jeder Rückschlag wird zum Drama, jede Enttäuschung zur Katastrophe und jede Aufregung mündet in Raserei. Ein halbwegs anständiges Erwachsenendasein ist neben einem müden Kind völlig unmöglich. Der pure Selbstschutz macht elterlichen Totalitarismus unverzichtbar.

WIR VERWECHSELN ERWACHSENWERDEN SCHNELL MIT EINEM TROTZIGEN UND LEICHTFERTIGEN UMGANG MIT UNSEREN SCHLAFENSZEITEN

Aber während eine solche rigorose Vorgehensweise in den ersten Jahren nützlich ist, kann sie in den Köpfen der Kinder eine ungünstige Dynamik erzeugen, wenn die Pubertät einsetzt. Das Erwachsenwerden und die Behauptung der eigenen Unabhängigkeit und Individualität setzen wir dann schnell mit einem neuen trotzigen und leichtfertigen Umgang mit unseren Schlafenszeiten gleich. Warum sollten wir das Licht um zehn oder gar um Mitternacht oder ein Uhr morgens aus machen, wenn wir doch so offensichtlich kein Kleinkind mehr sind? Warum sollten wir davon absehen, noch etwas am Computer zu erledigen, nur weil schon die ersten Anzeichen der Morgendämmerung am Himmel erscheinen? Jetzt sind wir groß und können das selbst entscheiden!

Was dabei oft übersehen wird, ist, wie sehr wir als Erwachsene in unserer Abhängigkeit von hinreichendem Schlaf einem kleinen Kind gleichen. Genau wie unser jüngeres Selbst, haben wir keine unumstößliche Kontrolle darüber, wie vernünftig wir unsere eigenen Möglichkeiten und unsere Situation einschätzen. Wir können unser Leben auf viele verschiedene Arten erzählen, von einer optimistischen Geschichte des Fortschritts mit gelegentlichen ehrenhaften Niederlagen, bis hin zu einer tragischen Erzählung von durchgehender Dummheit und unverzeihlichen Fehlern. Was hier für uns den Unterschied zwischen Wahn und Vernunft bestimmen kann, ist unter Umständen nicht mehr oder weniger als die Frage, wie lange unser Kopf in den vorangegangenen Stunden auf einem Kissen liegen durfte.

Es ist besonders bedauerlich, dass dieser Zusammenhang so leicht zu übersehen ist. In unseren Köpfen läuten keine Alarmglocken, die uns warnen, dass unsere kostbaren Schlafressourcen zur Neige gehen; unsere Eltern nörgeln und meckern nicht mehr, bis wir uns endlich schlafen legen, viele wohlmeinende Freunde laden uns zu Abenden ein, die erst spät beginnen; unsere Bildschirme haben zu jeder Stunde etwas Neues und Aufregendes zu erzählen – und keine trendigen oder einflussreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens scheinen uns jemals dazu zu ermuntern, früh ins Bett zu gehen oder stolz ihre penible Schlafroutine zu präsentieren. Akribisch auf den Schlaf zu achten, scheint etwas zu sein, das nur eine sehr langweilige und verzweifelte Person interessiert.

DIE ERSCHÖPFUNG RAUBT UNS DEN VERSTAND, LANGE BEVOR WIR MERKEN, WO DAS PROBLEM EIGENTLICH LIEGT

So manövrieren wir uns geradewegs in den Schlafmangel und fangen deshalb an, viele dunkle Dinge mit unheilvoller Leichtigkeit zu glauben: dass unsere Beziehung so gut wie vorbei ist, dass jede*r uns hasst, dass unser Leben sinnlos ist und dass die menschliche Existenz ein kosmischer Witz ist. “Wenn wir müde sind, werden wir von Ideen angegriffen, die wir vor langer Zeit erobert haben”, wusste Friedrich Nietzsche. Wir drehen vor Müdigkeit durch, lange bevor wir merken, welche Rolle die Erschöpfung dabei spielt, uns den Verstand zu rauben.

Wir müssen etwas von der Weisheit unserer frühen Jahre zurückgewinnen. Wir mögen eine imposante Statur aufweisen, einen wichtigen Job innehaben und beeindruckende Reden halten können, aber wenn es um unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber emotionalem Chaos geht, sind wir nicht robuster als ein winziger Säugling. Wann immer wir spüren, dass unsere Lebensgeister sinken und Wahnsinn und Angst uns bedrängen, sollten wir alle Unternehmungen aufgeben und uns ins Schlafzimmer begeben. Wir sollten auf unser reglementiertes Schlafverhalten genauso stolz sein wie auf ein sauberes Haus oder eine florierende Karriere.


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OHNE GENÜGEND SCHLAF ZU DENKEN, IST SCHLIMMER ALS GAR NICHT ZU DENKEN

Die Basis unserer Sorgsamkeit sollte Bescheidenheit sein. Während das gründliche Durchdenken unserer Probleme entscheidend für unsere mentale Gesundheit ist, ist der Versuch, ohne genügend Schlaf zu denken, schlimmer als gar nicht zu denken. Wenn wir müde sind, ist unser Denken rachsüchtig und schludrig. Es übersieht wichtige Details, es gibt unseren Feinden die Oberhand, es überlässt den Sieg den Predigern der Traurigkeit. Es ist nicht respektlos gegenüber unserem eigenen Verstand, unseren Denkapparat erst dann in Gang zu setzen, wenn er angemessen wiederhergestellt ist – wie eine leistungsstarke Rakete oder ein teures Motorboot, das man nur dann in Betrieb zu nehmen wagt, wenn wir sicher sein können, dass der Himmel klar und die See ruhig ist.

Wenn wir unsere Verletzlichkeit im Zusammenhang mit mangelndem Schlaf begreifen, brauchen wir niemals eine Sorge besonders ernst zu nehmen, die nach zehn Uhr abends plötzlich extrem drängend erscheint. Worüber wir mitten in der Nacht in Panik geraten, sollten wir automatisch beiseite schieben. Kein wichtiges Gespräch und keine Auseinandersetzung sollte jemals nach 21 Uhr geführt werden.

Behutsamkeit ist nicht nur in der Nacht geboten. An verschiedenen Punkten des Tages, wenn wir überwältigt sind, sollte uns bewusst sein, dass wir innehalten und die weiße Flagge hissen sollten. Es mag so aussehen, als ob wir weiter versuchen müssen, unsere Dämonen zu bekämpfen. Tatsächlich können wir sie mit einem Nickerchen vertreiben. Wir haben vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber es ist fauler und unverantwortlicher zu versuchen, weiterzumachen, als zu erkennen, dass das Spiel vorerst aus ist. Es ist nichts Beschämendes daran, zuzugeben, dass man nicht mehr weitermachen kann. Genau dieses Wissen bietet uns die Chance, bald eine neue Runde zu kämpfen. Manch eine Krise hätte durch eine rechtzeitige Siesta vermieden werden können.

Wenn wir im Bett liegen, können wir uns in ein kleineres, pelziges Säugetier versetzen, ein Kaninchen oder vielleicht ein Eichhörnchen. Wir sollten unsere Knie ganz nah an die Brust heben und die Bettdecke über unseren Kopf ziehen. Vielleicht tränken wir ein ganzes Stück des Kissens mit unseren Tränen. Wir können – metaphorisch – unsere eigene müde Stirn streicheln, wie es einst ein*e liebende*r Erwachsene*r getan haben mag. Das Leben als Erwachsene*r ist unerträglich hart, und wir sollten das wissen und beklagen dürfen.

WIR SIND NICHT DIE EINZIGEN, DIE SICH VERZWEIFELT NACH EINEM GEMÜTLICHEN, SICHEREN NICKERCHEN SEHNEN

Wir sollten uns nicht komisch fühlen in unserer weinerlichen Eichhörnchenposition. Andere Menschen geben sich große Mühe zu verbergen, dass sie genau das Gleiche tun oder tun möchten. Wir müssen jemanden extrem gut kennen – besser als wir 99% der Menschheit kennen – bevor die Person uns in das Ausmaß ihrer Verzweiflung und Angst und der Sehnsucht nach einem gemütlichen, sicheren Nickerchen einweihen wird. Es sieht kindlich aus, aber es ist tatsächlich die Essenz des Erwachsenseins, die eigenen kindlichen Tendenzen zu erkennen und ihnen Raum zu geben.

Was die Position des eingerollten Eichhörnchens uns zeigt, ist, dass nicht alle geistigen Probleme durch aktives Nachdenken gelöst werden können. Nicht aktiv zu denken, sollte auch als Teil der Arbeit des Geistes verstanden werden. Zusammengerollt im Bett zu liegen, erlaubt unserem Verstand eine andere Art des Denkens, die Art, die stattfinden kann, wenn wir nicht mehr ungeduldig nach Ergebnissen suchen, wenn das übliche hektische bewusste Selbst eine Pause einlegt und den Verstand eine Zeit lang machen lässt, was er will. Paradoxerweise haben erst dann bestimmte reichhaltigere, kreativere Ideen die Ruhe und Freiheit, sich zu entfalten – so wie sie es vielleicht bei einem Spaziergang in der Natur oder bei einem Getränk in einem Café tun. Denken gelingt uns nicht besonders gut, wenn es das Einzige ist, was wir zu tun versuchen.

Wir haben viele gute Gründe zu leben. Wir sind vielleicht nur nicht ganz in der Lage, sie zu erkennen, bis wir uns das Privileg eines weinerlichen Nickerchens oder einer langen Nachtruhe gegönnt haben.


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By The School of Life

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