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Kleine Freuden: Alte Fotos unserer Eltern

Kleine Freuden: Alte Fotos unserer Eltern

Da sitzt ein Mädchen im Badeanzug am Strand, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, als wäre sie ungeheuer stolz auf irgendetwas. Neben ihr steht ein Junge, den Sie nicht kennen – könnte das ihr Cousin Kenneth sein? Es ist Ihre Mutter, ungefähr sieben oder acht Jahre alt oder schon achteinhalb Jahre. Sie versuchen herauszubekommen, aus welchem Jahr dieses Foto stammen könnte. Als sie Sandburgen gebaut (was sie übrigens mit ihrer Enkelin heute noch gerne tut) und ihre Freunde nassgespritzt hat – war das im selben Jahr, als Studenten in den Nebenstraßen von Paris Steine auf Polizisten geworfen haben? Oder war es zu der Zeit, als die Wissenschaftler der Nasa sich beeilten, das Problem mit den Starthilferaketen aus dem Weg zu räumen, damit in jenem Sommer die erste Mondlandung stattfinden konnte? (Es gehört zu den Geschichten, die in der Familie immer wieder erzählt werden, dass Ihre Mutter als kleines Mädchen in dieser Nacht aufbleiben durfte, um die Mondlandung live im Fernsehen zu verfolgen.) Wie es wohl war, damals zu leben und sich an so etwas nicht als ein historisches Ereignis zu erinnern, sondern einfach als verschwommenes Hintergrundgeräusch in den Sommerferien am Meer?

Auf einem anderen Foto sieht Ihr Vater unglaublich schlank aus, aber wie immer hat er seine Schultern auch hier leicht hochgezogen. Er sitzt vor einer Bar – es sieht aus, als wäre es irgendwo in Venedig – und hat ungewohnt dichtes, kastanienbraunes Haar. Selbst als er noch Haare hatte, konnte er sie nicht bändigen. Wer könnte dieses Foto aufgenommen haben? Das sollten Sie ihn irgendwann mal fragen, obwohl eine Unterhaltung mit ihm im Moment nicht gerade zu Ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört. Es muss einige Jahre vor dem Zeitpunkt aufgenommen worden sein, als er Ihre Mutter kennengelernt hat, denn auf den Hochzeitsfotos hat er schon ein bisschen Gewicht zugelegt, und sein Haaransatz hat sich nach hinten verschoben. Hat er damals noch studiert? War er mit jemand anderem zusammen? Sie erinnern sich noch gut, wie Ihre Mutter einmal nach jemandem namens Sandra gefragt hat, und Ihr Vater sagte: „Ich möchte gar nicht wissen, was sie jetzt macht“ – und dann war er ein wenig ruhiger als sonst. Aber er verfällt oft in Schweigen, und es ist schwer zu sagen, ob etwas wirklich wichtig für ihn ist. Doch auf diesem Foto wirkt er so erwartungsfroh und lebendig, als ob er gerade etwas Originelles sagen wollte.

Unsere Eltern gehören in gewisser Weise zu den Menschen, die wir auf dieser Welt am besten kennen. Wir haben so viel Zeit mit ihnen verbracht. Wir haben wesentlich öfter mit ihnen zusammen gegessen als ihre besten Freunde, und wir kennen sie wie nur wenige andere: Wir haben sie in dem Aufzug gesehen, den sie morgens um sieben anhaben; wir haben sie ängstlich erlebt und manchmal auch wütend; wir wurden in ihren Armen gewiegt; wir kennen die Schublade mit ihrer Unterwäsche und ihre Zehennägel; und wir sind Experten, wenn es darum geht, ihre Fähigkeiten beim Aufstellen eines Zeltes oder bei der Zubereitung von Makkaroni mit Käse zu beurteilen.

 Aber wenn wir uns diese Fotos betrachten, merken wir, dass es noch andere Seiten an ihnen gibt, die wir kaum kennen. Wie wäre es wohl, wenn man sie wäre? Wenn wir sie in diesem jungen Alter kennenlernen würden, würden wir sie dann mögen? Würden wir eine seelische Verwandtschaft spüren? Und heute, wie geben sie sich, wenn sie mit ihren Freunden zusammen sind? Welche Seiten ihres Charakters haben wir vielleicht noch nicht gut genug kennengelernt?


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Die unterschwellige Freude besteht darin, dass die Liebe zu unseren Eltern zunimmt. Eines ist unvermeidlich: Es gibt immer einiges, was an einem Elternteil nicht so angenehm ist – es ist kaum möglich, aufzuwachsen, ohne dass man sich manchmal von seinen Eltern verraten fühlt. Das ist nicht immer allein die Schuld unserer Eltern, besonders, wenn sie sich wirklich angestrengt haben, gute Eltern für uns zu sein. Es ist eher so: Je älter wir werden, desto weniger können unsere Eltern der bewundernden, stürmischen Liebe, die wir einst für sie empfunden haben, noch gerecht werden. Die Person, die uns mit sechs Jahren fast wie ein König vorkam – weise, ungeheuer witzig und großzügig –, wird uns mit der Zeit kleinkariert und abwechselnd träge und dann wieder hyperaktiv vorkommen. Wir werden feststellen, welch exzentrische Beschäftigungen sie vor uns verbergen; sie werden uns in Verlegenheit bringen. Sie werden bereits von trivialen Problemen aus der Bahn geworfen, und in wirklich wichtigen Momenten werden sie uns tief enttäuschen – ohne dass es je ihre Absicht gewesen wäre. 

Wenn wir solche alten Fotografien betrachten, begreifen wir etwas, was wir als Kinder schlicht nicht fassen konnten: Im Leben unserer Eltern ging es nicht ausschließlich um uns. Sie haben nicht ihr ganzes Leben damit verbracht, sich auf uns vorzubereiten. In der Zeit, in der diese Bilder entstanden sind, hatten sie noch keine Ahnung, was die Zukunft bringen würde. Wir sind von einem frech grinsenden Mädchen und einem zurückhaltenden jungen Mann großgezogen worden – und nicht von gänzlich reifen Erwachsenen, die unerklärlicherweise einige wichtige Dinge falsch angepackt haben. Wenn wir solche Fotos sehen, sind wir (wenn auch nur für kurze Zeit) eher bereit, nicht so nachtragend zu sein und uns diesen freundlichen, eigenartigen Menschen gegenüber entgegenkommender zu verhalten, denen wir zufällig unser Leben verdanken.

Eines Tages betrachtet vielleicht jemand ein Foto von Ihnen: Ein Foto, bei dem für Sie alles ganz klar ist und jedes Detail dieses Erlebnisses lebendig und bewegend ist. Dieser andere spürt dann die gleiche Art zärtlicher und ratloser Neugierde. Vielleicht werden sich Ihre Kinder ihrerseits einmal fragen, wie ihre Mutter oder ihr Vater eigentlich als junge Leute waren, und wie vielschichtig die ganze Bandbreite ihres Wesens wirklich ist.

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By The School of Life

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