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Irvin D. Yalom – Über den Tod, das Leben und die Liebe

Irvin D. Yalom – Über den Tod, das Leben und die Liebe

In unserem Talk im vergangen Jahr haben wir mit dem berühmten Psychotherapeuten und Schriftsteller Irvin D. Yalom über die schwierige Zeit gesprochen, als er von seiner lebenslangen Partnerin und Liebe seines Lebens, Marilyn, Abschied nehmen musste.

Wie gelingt es einem Menschen, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, anderen zu helfen, mit Verlust und Trauer umzugehen, einen solchen Abschied zu bewältigen? Bei unserem Online-Talk sprach Philosoph und School of Life Dozent Martin Ebeling live mit Irvin D. Yalom. Das folgende Interview ist ein gekürzter Auszug aus diesem Gespräch.

Martin Ebeling:
Wir sind überglücklich, dass wir die Möglichkeit haben, mit Ihnen zu sprechen; über Ihr neustes Buch, dass Sie zusammen mit Ihrer mittlerweile verstorbenen Frau Marilyn geschrieben haben. Und es heißt: “Unzertrennlich – Über den Tod und das Leben.” Es ist ein Buch über das Sterben, den Tod, Verlust, Trauer – aber auch über Liebe. Es ist eine Liebesgeschichte, die sehr, sehr bewegend ist. Und ich möchte damit beginnen, Sie zu fragen, wie es Ihnen in diesem Moment geht. Da ist diese Geschichte in Ihrem Buch, wo Sie beschreiben, wie Sie einen alten Freund, Jerry Frank, in einem Pflegeheim in Baltimore besuchen, der an einer schweren Demenz litt. Und Sie schreiben:

“Ich sah ihn dort sitzen und ich fragte ihn, wie sein Leben nun sei.”
Und er sagte:
“Nicht so schlimm, Irv. Es ist nicht so schlimm.”
“Genieße jeden Teil dieses erstaunlichen Phänomens, das wir Bewusstsein nennen, und ertrinke nicht.”
Ich finde Trost in Franks Worten.
Ich sitze in diesem Stuhl und sehe das Leben an mir vorüberziehen.
“Es ist nicht so schlimm, Irv.”

Und Sie sagen, Sie finden Trost in diesen Worten, weil dort immer noch dieses erstaunliche Phänomen ist, das Bewusstsein genannt wird, das wir erleben können, selbst wenn wir von Trauer geplagt sind, selbst wenn viele Dinge und auch viele Erinnerungen uns genommen werden. Und ich wollte mich nur bei Ihnen erkundigen: Wie ist das Leben nun für Sie nach diesem großen Verlust?

Irvin Yalom:
Nun, ich bin ziemlich alleine ohne Marilyn. Ich habe drei Kinder in der Nähe und ein viertes Kind ein paar Stunden weiter entfernt. Also kommen sie mich für ein paar Tage jede Woche besuchen. In der restlichen Zeit gewöhne ich mich einfach an das Leben ohne Marilyn. Es ist schwer, das zu tun. Ich bin mit ihr zusammen gewesen, tatsächlich seit ich erst 14 Jahre alt gewesen bin. Selbst jetzt – ich sehe etwas und ich muss mich an den Gedanken gewöhnen, dass, nun, dass es real ist, selbst wenn Marilyn nicht davon weiß. Denn, wenn ich etwas interessantes sehe, erzähle ich es ihr. Mein ganzes Leben über, wissen Sie, teilen wir solche Dinge miteinander. Also muss ich mich an das Leben gewöhnen, so wie es ist – ohne ihr davon zu erzählen. Dinge existieren, auch ohne dass sie davon weiß. Es klingt einfach. Aber es ist sehr schwer. Es ist sehr schwer, das zu tun.

Ich wusste, als Marilyn starb – Ich habe mit einer ganzen Menge an trauernden Patient*innen gearbeitet – dass das nicht einfach werden würde. Die Prognose war nicht gut. Ich habe noch nie mit jemandem gearbeitet, der in einer Beziehung gewesen ist, die so lange angedauert hat, wie meine. Ich werde in ein paar Wochen 90. Und ich habe sie getroffen, als ich 14 war. Und ich bin seither untrennbar von ihr gewesen. Also wusste ich, dass es schwierig werden würde, darüber hinwegzukommen und das ist nun wirklich eingetreten.

Glücklicherweise ist das Schreiben für mich – wie immer – ein wirklicher Lebensretter gewesen. Und so habe ich nachdem Marilyn starb, die zweite Hälfte des Buches alleine geschrieben und seitdem schreibe ich auch noch an einem anderen Buch. Ich schreibe an einem Buch mit lehrreichen Geschichten für junge Therapeut*innen. Und es hat aktuell fast Buchlänge, aber ich möchte es nicht enden lassen. Also mache ich damit einfach weiter, weil ich nicht weiß, was ich ohne das Schreiben machen soll. Ich weiß, das klingt seltsam. Aber ich bin schon seit so langem Schriftsteller und … das hält mich beschäftigt. Es war ein Lebensretter für mich.

Irvin Yalom:
Ja, ich könnte einige Dinge dazu sagen. Unsere Beziehung endete mit diesem Buch, in gewisser Weise. Wir schrieben zusammen an diesem Buch, als sie starb. Eines Tages liefen wir diesen Weg in der Nähe unseres Hauses entlang. Das Cover des Buches zeigt sie und mich diesen Weg entlanglaufen. Und..und sie sagte zu mir:

“Weißt Du, ich denke…ich denke, wir sollten ein Buch zusammen schreiben, über das, was mir aktuell passiert.”
Und ich sagte zu ihr:
“Nun, das klingt nach einem ziemlich guten Buch für Dich, Marilyn. Ich fange gerade dieses andere Buch mit Geschichten an. Also, denke ich, ist es ein Buch, das du schreiben solltest.” Und sie sagte:
“Nein, nein, nein. Du schreibst nicht dieses andere Buch. Du wirst dieses Buch mit mir zusammen schreiben.“

Sie war wirklich stark. Sie wog kaum je über 45kg. Sie war ein wenig kleiner als 150 c m – auch wenn sie immer behauptete, mindestens 150 cm oder größer zu sein. Aber ja, sie war winzig, aber sehr kraftvoll. Und sie machte mir klar, dass ich nicht das andere Buch schreiben würde. Ich würde dieses mit ihr zusammen schreiben. Also haben wir damit angefangen und der Titel des Buches kam mir einfach eines Tages in den Sinn. Wissen Sie, ein Buch über Tod und Leben.

In anderen Worten, ein Buch über ihren Tod und dann über mein Leben danach. Darüber wie mein Leben war, nachdem sie gestorben ist. Und das war also die letzte Sache, die wir zusammen getan haben. Seltsamerweise, wie ich hier hinzufügen möchte, hat unsere Beziehung auch mit einem Buch begonnen.

Meine ersten 14 Jahre waren alle schrecklich. Ich habe in einer furchtbaren Nachbarschaft gewohnt, direkt über dem Lebensmittelgeschäft meines Vaters. Während sie in einem sehr schönen Teil der Stadt wohnte und Sprechunterricht nahm und Französischunterricht und Tanzunterricht und sie hatte eine liebevolle Mutter und sehr angenehme erste 14 Jahre. Und sie war immer Klassensprecherin und hatte tolle Sozialkompetenz. Also traf ich sie einfach durch Zufall.

Ich hatte von einer Party gehört, in Marilyn Koenicks Haus – das war ihr Geburtsname. Und ein Freund von mir, jemand, den ich erst kurz vorher getroffen hatte, ging dorthin zu ihrem Haus. Dort war ein Mob von Leuten, die versuchten, durch die Tür hinein zu gelangen. Sie war sehr, sehr beliebt. Und wir kletterten durch das Fenster rein. Er öffnete das Fenster und sagte: “Lass und das machen.” […] und ich sah diese winzige, wunderschöne Frau auf der anderen Seite des Raumes. Ich bahnte meinen Weg zu ihr und ich sagte: “Hallo ich … ich bin Irv Yalom und ich bin gerade durch Dein Fenster reingeklettert.” Und irgendwie habe ich es, in den paar Minuten, in denen ich mit ihr gesprochen habe, geschafft, ihre Telefonnummer zu bekommen und ich habe sie angerufen. Und ich hatte mein erstes Date. Nun, vermutlich, meine erste richtige Unterhaltung mit einer Frau.


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[…] Ein paar Tage später, gingen wir in eine Eisdiele in der Nähe ihres Hauses und sie sagte mir, dass sie die Schule an diesem Tag geschwänzt hatte.

Und ich sagte: “Die Schule geschwänzt?!” Ich war verwundert darüber. Wisst Ihr, ich habe so etwas nie getan. Und sie sagte, dass sie die ganze Nacht aufgeblieben ist, um diesen Roman zu lesen “Vom Winde verweht”, sehr populärer Roman zu dieser Zeit. Sie ist die ganze Nacht wachgeblieben und musste den Tag über schlafen. Deshalb hat sie die Schule verpasst.

Ich war absolut fasziniert, als ich das gehört habe. Weil ich den ersten Teil meines Lebens ausschließlich mit Büchern verbracht hatte. Es war gefährlich hinauszugehen. Es war ein schwarzes Viertel in Washington DC. Wir waren die einzige weiße Familie dort, abgesehen von den Besitzer*innen einiger anderer Geschäfte ein paar Blocks entfernt. Meine Eltern ließen mich keine schwarzen Kinder in unser Haus bringen. Deswegen habe ich viel Zeit in der Bücherei verbracht und viel Zeit damit, zu lesen. Und sie war die erste Person, die mir begegnet ist, die Bücher genauso sehr liebte wie ich. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, dass unsere Beziehung mit Büchern begann und mit Büchern endete.

Martin Ebeling:
Wir haben nun etwas über den Anfang Ihrer Beziehung gehört. Wenn wir zum Ende hin vorspulen, wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie diese Person verlieren werden? Diese Person, die mir so sehr am Herzen liegt.

Irvin Yalom:
Wesentlich später als jede*r andere davon wusste, tatsächlich. Ich habe es einfach immer wieder verleugnet. Sie wachte eines Morgens auf, mit schrecklichen Schmerzen in ihrem Rücken und es wurden alle möglichen Tests gemacht. Sie haben bei Blutuntersuchungen festgestellt, dass sie Krebs hat, der die weißen Blutkörperchen betrifft – Multiples Myelom genannt. Und das ist in gewisser Weise behandelbar. Menschen können weitere 10, 15 Jahre lang mit dieser Krankheit leben. Aber für eine kleine Minderheit war die Behandlung nicht erfolgreich. Und Marilyn hat viele Behandlungen ausprobiert und keine davon hat funktioniert.

Im letzten Jahr, bevor sie starb, verbrachte sie einen Tag jeder Woche im Krankenhaus, bekam Infusionen mit Medizin. Ich war bei ihr. Ich habe sie nie wirklich aus den Augen gelassen. Also war ich die gesamte Zeit über bei ihr. Nach und nach wurde uns bewusst, dass die Medikamente nicht anschlugen. Zu diesem Zeitpunkt zahlte sie einen hohen Preis dafür, um am Leben zu bleiben. Sie hatte so viele Beschwerden und Schmerzen. Und es gibt eine Regel im Staat Kalifornien, […] dass, wenn zwei Ärzt*innen zustimmen, dass man eine Krankheit hat, die unheilbar ist, dann dürfen sie Sterbehilfe leisten. Und sie wählte diesen Weg. Und irgendwann hat sie…als sie das Gefühl hatte, dass sie dieses Unwohlsein nicht mehr ertragen konnte, den Schmerz des Lebens, entschied sie, sich von einem Arzt dabei helfen zu lassen, zu sterben […].

Martin Ebeling:
Sie sagten, dass Sie es für eine Lange Zeit verleugnet haben. Sie haben aktiv die Erkenntnis unterdrückt, dass Sie diese Person verlieren werden. Können wir etwas mehr über Ihre Gedankenwelt erfahren? Was haben Sie getan, um diese Erkenntnis zu unterdrücken? Wie hat die Verleugnung für Sie funktioniert?

Irvin Yalom:
Sie funktioniert immer noch. Ich kann mich nicht an die Tatsache gewöhnen. Es klingt albern, ich weiß – aber ich kann mich nicht an die Tatsache gewöhnen, dass ich sie nie wieder sehen werde. Es ist seltsam, wissen Sie. Und das ist wahr, schon seit Beginn an. Ganz von Beginn an, selbst als sie schrecklich krank war, und wir keinen Tee da hatten – sie ist die einzige Teetrinkerin in der Familie. Ich kaufte zwei oder drei Dutzend Teebeutel. Aber ich wusste, mein rationaler Verstand wusste, dass sie danach nicht mehr allzu lange zu leben hatte. Also ist das magisches Denken. Denken, dass Dinge nicht wirklich existieren, Dinge nicht real sind,bis Marilyn von ihnen weiß.

„Oh, diese Apotheke, die wir beide seit 25 Jahren bereits kennen, hat einfach zugemacht. Wann erzähle ich Marilyn davon? – Warte mal.. Marilyn ist tot. Sie ist vor einem Monat gestorben.”

Es ist eine Art … eine Art Verleugnung. Es ist selbst jetzt schwer für mich, mich an die Tatsache zu gewöhnen, dass ich so alt bin und dass ich dem Tod selbst so nahe bin, aber hauptsächlich, dass ich sie nie wieder sehen werde.

Für Menschen, die dies nie erlebt haben, klingt das sehr seltsam, sehr albern, aber das ist die Art und Weise auf die mein Verstand noch funktioniert. Ich kann mich nicht an die Idee gewöhnen, dass ich sie nie wieder sehen werde.

Martin Ebeling:
Ich weiß, dass Sie ein Atheist sind, der normalerweise keinen Trost in religiösen Geschichten findet, über das Leben nach dem Tod und die Idee, dass wir vielleicht irgendwann einmal wieder aufeinandertreffen. Aber gleichzeitig resonieren sie auch mit diesem Teil Ihres Lebens. Das ist zumindest das, was ich aus dem Buch mitgenommen habe.

Irvin Yalom:
Ja, da gibt es etwas. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das im Buch vorkommt. Es ist, als ob mir ab und zu der Gedanke kommt, dass wenn ich sterbe, ich mich wieder zu Marilyn geselle. Jetzt, für meinen jetzigen Verstand und meine Intelligenz, ist das total absurd.

Ich werde mich nicht zu Marilyn gesellen. Marilyn existiert nicht. Sie ist nicht länger existent. Aber diese Idee, dass ich mich zu Marilyn gesellen würde, spendete mir Trost. Es ist so seltsam.

Ein Teil meines Verstandes ist beruhigt durch diesen seltsamen Gedanken, dass ich mich zu Marilyn gesellen werde. Es hilft mir dabei, zu verstehen, was Religionen der Menschheit seit Anbeginn der Zeit geboten haben. Die Idee, dass es eine Art von Fortsetzung nach dem Tod gibt. Mein intelligenter Verstand glaubt absolut nicht daran, für keine Sekunde, aber dieser andere Teil bietet Trost. Und das ist eine erstaunliche Erkenntnis für mich.

Martin Ebeling:
Das erinnert an die Ruhe, die Sie beschreiben und die Marilyn ebenfalls beschreibt im Buch, mit der sie ihrem eigenen Tod gegenübertrat. Sie entschied sich für den Weg der ärztlichen Beihilfe zum Suizid oder der ärztlichen Sterbehilfe. Ich bin neugierig, von Ihnen zu erfahren, wie diese Entscheidung Ihre Beziehung beeinflusst hat. Welche Gedanken hat sie ausgelöst?

Irvin Yalom:
Nun, ich hoffe einfach, dass ich, selbst ebenfalls eine solche Beihilfe haben kann. Ich wollte das schon immer. Und ich und Marilyn waren uns einig darin – darin, beim Sterben Hilfe zu bekommen. Und ich würde es selbst ebenfalls gerne tun.

Aber es ist…es ist so schwer für mich. Ihr Anblick als…als sie letztendlich an dem Punkt angekommen ist, an dem sie das Gefühl hatte, dass sie nicht weitermachen kann; der Schmerz zu viel für sie ist. All diese Schmerzen im Rücken, die sie hatte, waren furchtbar. Und sie fragte ihren Arzt, ob nun die Zeit gekommen sei. Er stimmte zu, zu uns zu kommen, aber wir mussten warten. Sie wollte, dass all unsere vier Kinder da waren.

Wir stellten uns im Kreis um ihr Bett und er zermahlte das Medikament. Er machte es zu einer Flüssigkeit, die sie durch einen Strohhalm trinken konnte. Laut Gesetz, kann er ihr keine Infusion damit legen, sie muss es selbst zu sich nehmen. […] Also hat sie das getan. Und ich habe zugesehen, wie sie es getan hat. Ich habe ihre Hand gehalten und stand daneben und wusste nicht, was ich tun sollte. Alles was ich tun konnte, war zählen. Ich habe ungefähr 16 oder 17 Atemzüge gezählt und dann plötzlich war sie … war sie weg.

Ich lehnte mich herab, um ihre Stirn zu küssen. Und der stärkste Satz in diesem gesamten Buch ist, dass ich diesen eisigen Kuss nie vergessen werde und das ist eingetreten. Ich bekomme das nicht aus dem Kopf. Es verfolgt mich, der Anblick von mir, ihre Stirn küssend, die bereits erkaltet ist. Es ist Teil von…Teil meiner Trauer, dass es mir immer und immer wieder in den Kopf kommt. Obwohl ich für sie so froh bin, dass sie ihren Schmerz beenden konnte. Sie wollte uns nicht verlassen. Sie wollte ihre Kinder bei sich habe und wir waren alle da. Aber diese Szene wird nie aus meinem Verstand verschwinden. Da bin ich mir sicher.

Martin Ebeling:
Vielen Dank, dafür dass Sie das mit uns teilen. Marilyn schreibt: “Letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass man nicht nur für sich selbst am Leben bleibt, sondern auch für andere.” Und natürlich hat sie dabei an Sie gedacht und sie hat an ihre Familie und an ihre Kinder und an ihre vielen Freunde gedacht. Sie zitiert auch Nietzsche, der sagte: “Viele starben zu spät, einige starben zu früh, stirb zur rechten Zeit.” Deswegen frage ich mich, was der innere Kampf war, der vielleicht in ihr ablief.

Irvin Yalom:
Ich denke, sie würde diesen Konflikt so beschreiben, dass sie wusste, wie ich mich ohne sie fühlen würde und ihre Kinder würden es wissen, aber gleichzeitig musste sie sich mit ihrem eigenen Schmerz befassen. Und ich war … in gewisser Hinsicht war ich froh, dass sie das tun konnte. Ich würde auch gerne den Zeitpunkt meines eigenen Todes wählen können. Sie war heroisch darin, für mich am Leben zu bleiben, für so lange wie sie es getan hat. Sie konnte nicht länger laufen. Wissen Sie, sie war zu schwach dafür. Und sie hatte Recht, sie sah keinen Sinn darin, dieses Leben, das für sie so schrecklich war, fortzusetzen.

Martin Ebeling:
Was ich heraushöre, ist, dass die Dankbarkeit dafür, dass sie so lange für Sie weitergelebt hat, vielleicht die Enttäuschung überwiegt, darüber, dass sie zuletzt entschied, Sie früher zu verlassen, als sie hätte müssen, wenn sie auf einen natürlichen Tod gewartet hätte.

Irvin Yalom:
Ja, das habe ich empfunden. Ich war dankbar für das, was sie getan hat und die Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Im letzten Jahr ihres Lebens, sind wir kaum getrennt gewesen. Und dieses Buch zusammen zu schreiben, hat uns natürlich noch näher zusammengebracht. Wir haben die Kapitel des jeweils anderen gelesen. Sie war immer meine erste Leserin. Seit ich mit dem Schreiben begonnen habe. Sie war eine gute Lektorin.

Martin Ebeling:
Es gibt sehr starke Statements im Buch darüber, dass Sie nichts ändern würden, Sie vollkommen frei von Reue sind und dass dies auch die Sichtweise erleichtert auf oder dass dies es einfacher macht, dem Tod gegenüberzutreten und mit der Angst bezogen darauf umzugehen.

Irvin Yalom:
Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt für mich. Die Idee der Reue oder des Freiseins von Reue. In meinen letzten Jahren sind viele Personen, die ich beraten habe, mit viel Todesangst zu mir gekommen. Und für viele von ihnen – ich denke, sogar die meisten von ihnen, sicherlich nicht alle, aber viele – gibt es eine Formel. Nach und nach hat sich herauskristallisiert, dass die Formel lautet: Je mehr Reue Du bezogen auf Dein Leben hast, desto größer ist Deine Todesangst.

Wenn Leute kommen, die viel Todesangst haben, fokussiere ich mich ziemlich schnell darauf und sehe mir an, welche Dinge sie bereuen, bezogen darauf, wie sie gelebt haben, wie sie leben und was getan werden kann, um das zu ändern. Ich bereue wirklich nichts in meinem Leben und das verdanke ich zu einem großen Teil Marilyn.

Mein Leben wäre sehr anders gewesen. Davon bin ich überzeugt. Ohne sie – Was ich hätte erreichen können? Ich habe Medizin studiert. Ich wäre vermutlich dorthin zurückgekehrt, wo ich gelebt habe, in Washington DC. Ich wäre in eine Privatpraxis gegangen. Ich denke nicht, dass ich die Bücher, die ich geschrieben habe, ohne sie geschrieben hätte. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeglicher Erfolg, den ich hatte, auf unsere Beziehung und unser Zusammensein zurückzuführen ist.

Also ist mir bewusst, dass sie mein Leben verändert hat und ich bereue wirklich sehr wenig. Nachdem sie gestorben ist und ich vollkommen erledigt war und ich einfach im Bett geblieben bin, tagein, tagaus, drehte ich meinen Kopf und ich sah mein Bücherregal an und sah all die Bücher, die ich geschrieben habe darin. Und zum allerersten Mal, begann ich meine eigenen Bücher erneut zu lesen. Ich habe alle von ihnen noch einmal gelesen. Ich habe die Romane gelesen, die ich über Nietzsche und Schopenhauer geschrieben habe; über Gruppentherapie, über Spinoza. Und ich habe die Kurzgeschichten, die ich geschrieben habe, gelesen. In gewisser Weise hatte ich diese Bücher vergessen. Aber ich war so zufrieden mit ihnen. Dann wurde mir bewusst, dass ich in meinem Leben weitaus mehr geschafft habe, als ich mir jemals hätte vorstellen oder erwarten können. Deswegen empfinde ich sehr wenig Reue bezogen auf mein Leben und folglich, denke ich, habe ich so gut wie keine Todesangst – so wie es früher in meinem Leben durchaus öfter der Fall gewesen ist.

Martin Ebeling:
Da wir nicht alle weltbekannte Therapeut*innen sind und auch keine weltbekannten Schriftsteller*innen – Wenn wir in unserem Leben zurückblicken, haben wir vielleicht etwas weniger das Gefühl viel erreicht zu haben, als Sie es haben. Deshalb frage ich mich: Die Idee, ein Leben ohne Reue zu leben – Ist das etwas, das nur durch Zufall entsteht? Und wir können letztendlich nichts anderes tun, als zurückblicken und Wertschätzung für das empfinden, was wir getan haben? Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass wir gewisse Dinge bereuen oder ist es etwas, das wir proaktiv dazu nutzen können, um unser Leben zu formen. Sodass wir am Ende unseres Lebens nur wenig bereuen.

Irvin Yalom:
Ja, nun, Menschen bereuen sehr unterschiedliche Dinge. Ich denke, Marilyn hat mir dabei geholfen, ein vollständiger Mensch zu sein. Ich hatte absolut keine soziale Kompetenz, während sie in dieser Hinsicht ganz großartig war. Also habe ich viel von ihr gelernt und ich hätte einfach ein anderes Leben gelebt; hätte auf sehr andere Weise soziale Beziehungen geführt; wäre sehr ängstlich gegenüber Menschen gewesen, sehr schüchtern. Also verdanke ich ihr sehr viel.

Menschen bereuen auf so unterschiedliche Art und Weise. Es könnte Reue bezogen auf die Art von Beziehung sein, die sie mit ihren Kindern hatten und sie fragen sich, wie das zu ändern wäre. Oder bezogen auf die Beziehung zu ihren Freunden. Es gibt eine große Bandbreite an Dingen, die Menschen bereuen können. Aber, ich schätze, ich war recht früh in meinem Leben – sehr früh in meinem Leben – einfach verliebt in Bücher. Und die Tatsache, dass ich in der Lage gewesen bin, diese Bücher zu schreiben, war sehr hilfreich.

[…] Sie haben Recht, nicht jede*r wird Bücher schreiben, aber irgendwie war das etwas, von dem ich mein ganzes Leben lang geträumt habe. Und für mich war es das, worin ich mich verliebt habe. Wenn andere Leute voller Reue sind, heißt das, sie haben nie die Talente, die sie hatten, genutzt. Sie haben nie die Freundschaften geschlossen, die sie gerne gehabt hätten, sind nie mit anderen Menschen zusammen gewesen, sind nie gütig gewesen.

Bedauern könnte überall sein. Und diese Reue – Wenn ich mit Patient*innen spreche und sie danach frage, was sie bereuen, dann gibt es so viele Unterschiede. Reue, weil sie ihr jüngstes Kind seit langem nicht getroffen haben, das die Familie vor langer Zeit verlassen hat. Oder sie haben keine Verbindung mehr zu einem Geschwisterkind. Es ist so unterschiedlich.

Martin Ebeling:
Wir haben eine Frage reinbekommen. Eine anonyme Frage: “Ich bin Krebspatientin. Mein Krebs ist unheilbar. Ich habe wahrscheinlich noch ein Jahrzehnt vor mir. Ich habe ein*e großartig*e Therapeut*in und komme einigermaßen mit allem zurecht. Kann ich etwas tun, um diese Situation einfacher für meinen Ehemann zu machen? Anders gesagt – und es tut mir leid, wenn das zu persönlich sein sollte – Gibt es etwas, das ich als Ehefrau tun könnte, um die Situation für meinen Mann zu verbessern, wenn die Zeit gekommen ist?

Irvin Yalom:
Was es für mich und Marilyn besser gemacht hat, war, über alles zu sprechen.

Über unsere Ängste und unsere Wünsche. Das Schlimmste für einen Menschen ist, allein zu sterben. Und ich glaube, je mehr man mit der betroffenen Person zusammen sein kann, umso näher fühlt man sich. Und kann dem Tod besser begegnen. Mein Horror ist, dass Menschen allein sterben müssen. Und ich tue alles, was ich tun kann, damit meine Patient*innen eine Person haben, mit der sie ganz offen sein können. Versuchen Sie nicht, Ihrem Ehemann oder Ihrer Ehefrau etwas zu ersparen. Sie können diese Dinge miteinander teilen.

Martin Ebeling: Gibt es etwas, das Sie mitnehmen aus der Erfahrung mit Marilyn? Etwas, das sie richtig gut gemacht hat, um Ihnen zu helfen? Oder etwas, das sie noch besser hätte machen können?

Ich weiß nicht, ob das eine gute Antwort auf Ihre Frage ist. Aber es ist das, was mir zuerst in den Sinn kommt.

Irvin Yalom: Nein, es gibt absolut nichts, was sie noch hätte tun können. Sie hat ihr letztes bisschen Energie eingesetzt. Ich habe sie gewissermaßen gedrängt, mit mir zum Briefkasten zu gehen. Unser Weg zum Briefkasten ist sehr lang, ungefähr 45 Meter. “Lass uns zum Briefkasten laufen”, sagte ich. Und sie tat, was sie konnte, um mir dabei zu helfen. Sie war großartig.

Die Tiefe unserer Bindung könnte eine Rolle dabei spielen, dass ich über die Trauer nicht hinwegkomme. Aber das hat auch damit zu tun, dass ich so alt bin. Ich kann kein neues Leben mehr beginnen.

Ich muss mich gerade mit vielen Dingen auseinandersetzen. Nicht nur mit ihrem Tod, der inzwischen anderthalb Jahre her ist. Sondern auch mit meinem eigenen Altwerden und meinem eigenen bevorstehenden Tod. Ich hoffe, das beantwortet Ihre Frage.

Martin Ebeling:
Eine andere Frage lautet: Was hat Ihnen am meisten dabei geholfen, keine Angst mehr vor dem Tod zu haben?

Irvin Yalom:
Marilyns Sterben – es ist merkwürdig zu sagen – hat mich mit dem Tod auf eine Weise in Berührung gebracht wie niemals zuvor. Aber da ist abermals der Gedanke, mein Leben voll ausgeschöpft zu haben. Es gibt keine wichtigere Antwort, die ich darauf geben könnte. Das verringert den Schmerz, den ich bezogen auf den Tod empfinde.

Martin Ebeling:
Eine weitere Zuschauer*innen-Frage: “Welchen Rat haben Sie für junge Menschen, denen es noch nicht gelungen ist, eine dauerhafte Partnerschaft zu finden? Halten Sie sich für besonders glücklich, Marilyn getroffen zu haben?” – Ich denke, wir haben alle den Eindruck, dass es so ist. Aber ist es Glück, dass zu einer dauerhaften Partnerschaft führt? Oder haben Sie einen anderer Ratschlag, den Sie den jüngeren Menschen in unserem Publikum geben können?

Irvin Yalom:
Das ist sehr schwer zu beantworten, aber ich glaube, dass man, wenn man erwachsen wird, beginnt, sich wirklich um den anderen zu kümmern. Diese Fürsorge ist am wichtigsten.

Wie fühlt er*sie sich? Wie fühlen sich Deine Bemerkungen für sie*ihn an? Wie war der Abend für sie*ihn? Drücke Dein Interesse darüber aus. Das ist das Wichtigste, das ich dazu sagen kann. Dass man das Wohl der anderen Person mit in den Blick nimmt. Darüber nachzudenken, was die Auswirkung eines Kommentars auf die andere Person war, den man gemacht hat. Ich denke darüber nach, wie der Abend für sie war.

Das Nachdenken über die andere Person und über die Partnerschaft ist zentral für die Entwicklung einer liebenden Beziehung. Das ist die beste Antwort, die ich dazu geben kann.

Martin Ebeling:
Die Fürsorge, die Sie für andere Menschen empfinden und in Ihrer Liebesbeziehung zu Marilyn zeigen, aber auch in der therapeutischen Beziehung zu Ihren Klient*innen. Und das ist noch immer das, was Sie antreibt und morgens motiviert, aufzustehen. Dass Sie einen positiven Einfluss auf andere Menschen haben wollen. Ist das die tiefste Quelle von Sinn für Sie? Und ist es dominanter geworden mit dem Alter, oder war es immer schon da?

Irvin Yalom:
Ja, ich denke, dass man an dieser Stelle über Angst und Therapie sprechen muss. Als ich jung war, hatte ich so viel Angst, so viel soziale Angst, dass ich nicht an andere Menschen denken konnte. Ich dachte nur an mich selbst und daran, wie ich mit meiner Angst fertig werden könnte. Ich musste eine ganze Menge arbeiten. Darum ist mir Therapie so wichtig.

Wissen Sie, man muss fähig sein, mit seiner Angst umzugehen, bevor man sich damit auseinandersetzen kann, wie es einem anderen Menschen geht und was man tun kann, damit er sich wohler fühlt. Ich habe in meinem Leben viele Therapeut*innen aufgesucht, […] und das Ausmaß an Angst ist viel geringer. Frühe Ereignisse im Leben können so destabilisierend sein und viel Trauer auslösen. Wenn Sie in den ersten Jahren Ihres Leben viel Angst erlebt haben, mit Eltern, die nicht liebevoll gewesen sind, dann hinterlässt das eine Narbe. Fast jede Person, mit der ich gesprochen habe und deren ersten Lebensjahre sehr schwierig gewesen sind, sagt dasselbe.

Martin Ebeling:
Wäre Ihr Tipp für Therapeut*innen, erstmal bei sich selbst Ordnung zu schaffen, um ein*e besser*e Therapeut*in zu werden oder sich besser um andere kümmern zu können?

Irvin Yalom:
Ich könnte es nicht besser sagen. Das ist absolut der Fall. Das muss man tun. Und zu den Leuten sage ich, spart nicht am falschen Ende. Ihr werdet zu vielen Gelegenheiten Therapie brauchen. Schämt euch nicht dafür, in Therapie zu sein. Das ist, was ich ganz offen vertrete.

Ich habe in meiner eigenen Ausbildung und in meiner Arbeit als Lehrer immer das Gefühl gehabt: Das Wichtigste, das man für seine Ausbildung tun kann, ist selbst in Therapie zu gehen. Und ich werde daran festhalten. Ich bin sehr davon überzeugt.

Martin Ebeling:
Haben Sie das Gefühl, dass es in Sachen Liebe ähnlich ist? Dass man Liebe und Fürsorge nur dann schenken kann, wenn es gelungen ist, die eigene Unordnung in Ordnung zu bringen? Ist das dieselbe Fürsorge?

Irvin Yalom:
Ja, ich habe das Gefühl, das könnte wahr sein. Ja, ich glaube, das ist wahr.

Martin Ebeling:
Unsere gemeinsame Zeit ist fast am Ende. Ich möchte sie beenden mit einer Frage, die vielleicht ein bisschen klischeehaft ist. Ich bin sicher, Sie haben Sie bereits gehört. Worauf kommt es am Ende an?

Irvin Yalom:
(überlegt) Auf Liebe. Mehr als auf alles andere. Wenn ich über mein Leben nachdenke, war die Liebe zu meiner Frau das Allerwichtigste für mich.


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By The School of Life

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