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Wie wir spontaner werden

Wie wir spontaner werden

Eine Erklärung für die latente Traurigkeit, die uns oft befällt, ist der Mangel an einer selten erwähnten, aber wesentlichen Zutat für ein gutes Leben: Spontanität. Ohne dass wir uns dessen unbedingt bewusst sind, leiden wir vielleicht an einem Übermaß an Ordnung, Vorsicht und Starrheit; wir wissen ziemlich genau, was wir in einem Jahr tun werden, wir machen kaum einen Schritt, ohne ihn bis ins Detail geplant zu haben, wir gehen selten ungeplant irgendwo hin. Unsere Gliedmaßen sind starr, unsere Worte sind bemessen, unsere Interaktionen vorgeschrieben. Alles steht unter genauer Beobachtung, ist aber nicht besonders befriedigend. Wir haben schon lange nicht mehr getanzt.

Wie könnte im Kontrast dazu ein spontaneres Leben aussehen? Es wäre eines, in dem wir in der Lage wären, mit weniger Hemmungen und Angst in Übereinstimmung mit unseren wahren Überzeugungen und Werten zu handeln. Im Freundeskreis könnten wir jemandem in einem Rausch ungehemmter Emotionen sagen – aber ohne dass es etwa romantisch gemeint wäre – wie sehr wir die Person lieben und bewundern. Oder wir würden uns trauen, wenn wir von jemandem verärgert sind, Schmerz und Enttäuschung direkt zu kommunizieren. In Gesellschaft könnten wir uns frei fühlen zu äußern, was wir tatsächlich über eine politische Angelegenheit denken, auch wenn die Meinung der Gruppe in einer andere Richtung geht. Im Bett könnten wir eine unserer intensiveren und seltener erwähnten Fantasien teilen. Bei der Arbeit könnten wir eine mutige und möglicherweise lebensverändernde Initiative ergreifen, viel früher als wir es uns vorgestellt haben. In unserer Freizeit beginnen wir vielleicht, eine Sammlung von Rezepten oder Gedichten zu schreiben – oder wir buchen in allerletzter Minute eine Reise und begeben uns in ein Land, von dem wir noch nicht viel wissen, auf eine Reiseroute, die wir uns erst an diesem Morgen ausgedacht haben und nicht (wie sonst bei uns üblich) ein oder zwei Jahre zuvor.

Das Gegenteil von Spontanität ist Starrheit – die Unfähigkeit, zu viele unserer eigenen Emotionen ins Bewusstsein zu lassen. Stattdessen vertrauen wir auf harte Arbeit, Manieren und präzise Zeitplanung, um Kontakt mit der rohen, verwirrenden, intensiven und unvorhersehbaren Materie des Lebens zu verhindern. Wir sind erstarrt – in erster Linie, weil wir Angst haben. Wir bleiben wie angewurzelt auf unserem vertrauten Platz, weil wir jede Bewegung als äußerst gefährlich erleben. Wir grübeln exzessiv und versuchen, durch unsere Gedanken die Kontrolle über eine chaotische Umgebung zu erlangen. Wir handeln nur selten – aus Angst, einen schrecklichen Fehler zu begehen.

Spontanität ist fast immer etwas, das wir irgendwann verloren haben, anstatt es mysteriöserweise nie erlernt zu haben. Sie ist ein Potenzial, das uns allen von Geburt an innewohnt, aber sie kann – unter falschen Umständen – aus unserem Charakter entfernt werden. Wenn wir uns ein grausames Experiment vorstellen, das darauf abzielt, jemanden von seiner*ihrer Fähigkeit zur Spontanität zu befreien, müsste man ihm*ihr im Alter von ca. eineinhalb Jahren wahrscheinlich ziemlich viel Angst einjagen (sei es wegen des Bedürfnisses, das Haar eines Erwachsenen zu zerzausen, das Innere eines Schranks zu erkunden oder unkontrolliert zu weinen). Man müsste dem Kind das Gefühl geben, dass seine*ihre Emotionen nicht zu ertragen oder unerlaubt sind. Man würde es für jegliche Anzeichen von Überschwänglichkeit oder Verspieltheit beschämen. Und man würde ihnen ein Verhalten vorleben, das von Panik geprägt ist, wann immer etwas Neues am Horizont auftaucht: Ein unerwartetes Klingeln an der Tür wäre eine Krise, ein Urlaub eine Abfolge von möglichen Katastrophen.

WIR WERDEN NICHT SPONTAN SEIN, BIS WIR BEGREIFEN, WARUM ES SICH EINST SO GEFÄHRLICH ANFÜHLTE, ES ZU SEIN.

Es liegt in unserer Natur, dass ein Muster, das infolge einer Reihe von Umständen in unserer Kindheit entwickelt wurde, zu einem Merkmal des erwachsenen Charakters wird, bis wir uns an ihre Dynamik erinnern und sie verstehen. Mit anderen Worten: Wir werden so lange nicht spontan sein, bis wir begreifen, wie und warum es sich einst so gefährlich angefühlt hat, es zu sein. Der englische Psychoanalytiker Donald Winnicott sprach von einer gesunden Erziehung, in der ein Kind in der Lage war, sein Wahres Selbst zum Ausdruck zu bringen, ohne dass es zunächst der Einhaltung und Heuchelei eines falschen Selbst bedarf. Erst wenn dieses Wahre Selbst eine Chance hatte, sich zu entfalten, kann eine Person damit umgehen, sich den Anforderungen der Welt zu stellen, ohne dass sie zu viel an Kreativität oder Unternehmungslust verliert. Wir müssen – mit gewisser Dringlichkeit – herausfinden, was mit unserem Wahren Selbst passiert ist.

WIR KÖNNEN ES UNS LEISTEN, UNSEREN GEFÜHLEN UND GEDANKEN AUSDRUCK ZU VERLEIHEN

Auf dem Weg dorthin sollten wir erkennen, dass viele der Hemmschwellen, die wir uns als Kinder angewöhnt haben, in der Welt der Erwachsenen keine Berechtigung mehr haben und dass wir es uns, unter welchen Ängsten wir früher auch immer gelitten haben, jetzt leisten können, uns zu entspannen, unsere Gliedmaßen lockerer hängen zu lassen und ein paar Risiken einzugehen, um unserer Sexualität, unseren Überzeugungen, unserer Begeisterung und unseren Abneigungen Ausdruck zu verleihen. Wir könnten einem*r Freund*in gestehen, dass wir ihn*sie sehr mögen; wir könnten jemandem, der*die uns ständig ausnutzt, die Meinung geigen; wir könnten es wagen, einen Schritt zu tun, ohne dass wir jeden letzten Rest von Risiko ausräumen müssen. Wir haben uns zu lange in eine Position verkrampft, als warteten wir auf einen Schlag, der in unsere Vergangenheit gehört, nicht in unsere Zukunft.

Wenn wir das Werk des Künstlers Francis Bacon bewundern, dann vielleicht auch deshalb, weil dort eine kleine Moralgeschichte über Spontanität enthalten scheint. Bacons Gemälde waren in ihrer allgemeinen Gestaltung extrem starr und kühl, sie bestanden aus düsteren Farben, symmetrischen Linien und nüchternen Perspektiven. Aber inmitten dieser Strenge erlaubte Bacon typischerweise ein großes Maß an Willkür und Zufall. Er zeigte Figuren, die er mit größter Intuition zusammenstellte, indem er Farbe und manchmal auch Schwämme auf die Leinwand warf, indem er seine Pinsel in einem Rausch kalkulierter Unordnung in wirbelnde Formen presste.

DAS WIRKLICHE RISIKO BESTEHT DARIN, DEN REST UNSERES LEBENS ZU FÜHREN, OHNE UNSER WAHRES SELBST JEMALS AUSZULEBEN

Vielleicht müssen wir eine Version von Bacons Experimenten in unserem eigenen Leben durchführen; Bereiche mit großer Ordnung und Logik vorbereiten, aber dann Momente zulassen, in denen wir die Fesseln lockern, in der Gewissheit, dass nicht alles auf dem Spiel steht und dass wir so etwas ganz Essentielles gewinnen. Wir können mit Farbe werfen und sehen, wie sie landet, jemandem ein Kompliment machen und sehen, was passiert, in ein anderes Land gehen und sicher sein, irgendwie ein Bett für die Nacht zu finden, unser Leben ein wenig auf den Kopf stellen und darauf vertrauen, dass es zumindest interessant sein wird. Früher mag es sich sehr sicher angefühlt haben, jedes Risiko zu vermeiden – aber das wirkliche Risiko besteht heute darin, den Rest unseres Lebens zu führen, ohne dem spontanen wahren Selbst jemals Ausdruck zu verleihen, das sich in seinem Käfig versteckt, verängstigt und verkrampft. Wir können zunächst unauffällig – ohne, dass es jemand bemerkt – versuchen, ein wenig zu tanzen. Oder einfach ohne allzu großen Plan in die Ferne aufbrechen.

By The School of Life

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