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Wie es uns gelingt, die Kinder nicht vollkommen zu verkorksen

Wie es uns gelingt, die Kinder nicht vollkommen zu verkorksen

Wenn wir als Erwachsene über unsere Kindheit nachdenken, fällt uns oft auf, wie sehr unsere heutigen Probleme auf Defizite in dieser Zeit zurückzuführen sind. Wir könnten zum Beispiel erkennen, wie sehr wir unser geringes Selbstwertgefühl der Beziehung zu einer verschlossenen Mutter verdanken oder wie sehr unsere Schüchternheit am Arbeitsplatz auf einen übermäßig ängstlichen Vater zurückzuführen ist. Schritt für Schritt kann es uns gelingen, diese Probleme aufzuarbeiten, indem wir über das Geschehene reflektieren und die Vergangenheit mit Hilfe von Freunden, Tagebüchern und vor allem mit freundlichen und gut ausgebildeten Psychotherapeut*innen entwirren.

Doch während wir uns auf diese Weise mit Vergangenheit und Gegenwart auseinandersetzen, übersehen wir schnell eine entscheidende Etappe: was passiert, sobald wir eines Tages selbst Eltern sind? Wie werden wir mit den folgenschweren Aufgaben zurechtkommen, die unsere Eltern falsch gehandhabt haben? Wie könnten wir sicherstellen, dass die eigenen Kinder nicht unter einem weiteren Zyklus psychologischer Missgeschicke zu leiden haben? Wie könnten wir vermeiden, unsere “Macken” auf die eine oder andere Weise weiterzugeben?

“Wir lieben euch, aber wir werden euch Probleme mitgeben.”

Es ist hilfreich, hier grundsätzlich und unsentimental zu sein: Es gibt keine Möglichkeit, nicht zumindest einige der eigenen Probleme weiterzugeben; es gibt keine Möglichkeit Kinder großzuziehen, ohne ihnen in irgendeiner Form psychischen Schaden zuzufügen. Der am meisten psychotherapeutisch behandelte Mensch der Welt wird es nicht vermeiden können, Neurosen zu erzeugen; es gibt keine unschuldigen Eltern. Über der Tür des Kinderzimmers sollte das reifste Paar immer noch ein Schild aufhängen: Wir lieben euch – aber wir werden euch Probleme mitgeben.

Sobald diese Idee akzeptiert ist, kann sich das Gespräch wandeln. Es geht nicht mehr darum, den Schaden ganz zu vermeiden, sondern das Beste zu tun, um ihn zu begrenzen. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, ihre Probleme rechtzeitig zu verstehen und in der Lage zu sein, durchdachte, selbstkritische Antworten auf folgende Frage zu geben (eine Frage, die jeder anständige Elternteil lange vor dem Kauf eines Schwangerschaftstests beantworten können sollte): “Auf welche Weisen bin ich verrückt?”

Diese Frage sollte nicht als beleidigend oder ungewöhnlich gelten; denn es ist eine grundlegende Bedingung des Menschseins, dass wir von vornherein verrückt sind. Allerdings kann die Art und Weise, wie unser Verstand funktioniert, verhindern, dass wir uns genau bewusst werden, wie und in welchen Bereichen wir verrückt sein könnten – ein Wissen, das entscheidend ist, um möglichst wenig Schaden anzurichten.

Um unser Bewusstsein zu schärfen, können wir eine kleine Übung absolvieren, bei der wir versuchen, uns einige der vielen Arten zu vergegenwärtigen, in denen wir verkorkst sind und die wahrscheinlich das Leben derer, die wir über alles lieben, durcheinander bringen werden.

MÖGLICHE ELTERLICHE PROBLEME

  • Ich bin möglicherweise so traumatisiert von der Erinnerung an Härte und willkürliche Kommandos, dass ich nicht in der Lage bin, Grenzen zu setzen oder “Nein” zu sagen, wenn ich es tun sollte.
  • Ich könnte zwischen großer Gelassenheit und plötzlicher Wut schwanken, was ein empfindliches Kind verwirren könnte.
  • Vielleicht kann ich nicht verhindern, dass die enorme Angst, die ich bei der Arbeit und in meinen Inneren empfinde, auf mein Familienleben übergreift.
  • Es könnte sein, dass ich – aufgrund meiner sehr introvertierten Natur – nicht in der Lage bin, regelmäßig und intensiv an Familienaktivitäten teilzunehmen, wie ich es gerne möchte.
  • Ich könnte – wegen bestimmter sexueller Zwänge – nicht in der Lage sein, die Rolle des zuverlässigen Familienmenschen zu spielen.
  • Ich könnte mich aufgrund von Mängeln in meiner gegenwärtigen Beziehung zu sehr auf mein Kind fokussieren und es dadurch hindern, sich gesund zu entwickeln.
  • Ich könnte mein Kind aufgrund meiner Unsicherheiten dazu bringen, sich emotional so um mich kümmern zu müssen, dass es viel zu früh Verantwortung übernimmt.
  • Ich könnte wegen meines Neids und meines Grolls über die Art und Weise, wie ich im Leben behandelt wurde, meinem Kind das Gefühl geben, dass die Welt ein unwirtlicher Ort ist, den es fürchten sollte.
  • Ich könnte auf den Erfolg meines Kindes eifersüchtig sein.
  • Es kann passieren, dass ich mich dazu hinreißen lasse, ein Kind zu bevorzugen und beide gegeneinander ausspiele.
  • Ich könnte mich über die Verletzlichkeit eines Kindes aufregen und viel zu früh von ihm verlangen, es solle erwachsen werden und aufhören zu jammern.
  • Ich könnte Schwierigkeiten mit dem Geschlecht eines Kindes haben – aufgrund meiner schlechten Erfahrungen mit diesem Geschlecht.
  • Ich könnte wegen Unordnung und Lärm regelmäßig aus der Haut fahren
  • Ich könnte es persönlich nehmen, wenn sie in der Schule nicht gut genug wären.

Dies ist nur ein Anfang, es könnte – natürlich – noch sehr viel mehr zu entdecken geben. Entscheidend ist, dass man weiß, dass man eine große Anzahl von wahrscheinlich folgenschweren Problemen mit sich trägt.

Der nächste Schritt besteht darin, die Informationen – auf eine möglichst wenig dramatische Art und Weise – mit den voraussichtlichen Opfern zu teilen, sobald diese in der Lage sind, sie zu verstehen. Es ist von großem Nachteil für ein Kind, wenn seine Eltern zu sehr bemüht sind, eine Fassade von Vernunft und psychischer Kompetenz aufrechtzuerhalten. Im Interesse der Erhaltung der Truppenmoral werden sich viele Eltern unter Druck gesetzt fühlen, eine Show abzuziehen – vor allem in den ersten Jahren, indem sie sich wie immer vernünftig, ruhig, lächelnd und immer auf der Höhe darstellen. Aber um Kinder in ihrem seelischen Wohlergehen richtig zu unterstützen, wäre es viel hilfreicher, wenn diese Eltern ihren Stolz abschütteln und vorsichtig andeuten könnten, dass sie in Wirklichkeit nicht so makellos sind. Es ist ein enormes Privileg, von den eigenen Eltern selbst fundierte Kenntnisse über deren Neurosen zu erhalten, vor allem, wenn dieses Wissen mit selbstironischem Humor in einem sehr gelassenen und wenig alarmistischen Ton vermittelt wird.

Wir können unseren Kindern Jahrzehnte an Psychotherapie ersparen.

Dieses Kind wird dann nicht einige Jahrzehnte auf der Couch des Therapeuten verbringen müssen, um herauszufinden, ob und wie sein Elternteil gestört war. Die Informationen werden schon lange vorher frei und klug ausgetauscht worden sein.

Eltern erzählen gerne – und Kinder interessieren sich für – die Familiengeschichte: wo der Großvater geboren wurde, wen die Großmutter das erste Mal geheiratet hat, was der Vater nach dem Schulabschluss gemacht hat und so weiter. Zu diesen äußeren Entwicklungen könnte man eine psychologische Dimension hinzufügen, um die Muster der emotionalen Vererbung zu erklären.

Ein Kind könnte dann in der Lage sein, einem/er Freund*in auf dem Spielplatz oder einem interessierten Erwachsenen eine handliche Zusammenfassung der Probleme zu geben, mit denen seine Eltern zu kämpfen hatten:

Mamas Vater war ziemlich depressiv, und deswegen fiel es ihr schwer, Männern zu vertrauen, aber schließlich kam Papa vorbei und half ihr, das zu überwinden – und trotzdem ist sie ziemlich auf Eigenständigkeit bedacht und mag es, lange allein zu sein – und das führt zu Konflikten. Papa hatte eine sehr distanzierte Mutter und einen wertenden Vater (vielleicht hat er sich deshalb für Mama entschieden!). Das macht ihn ziemlich ängstlich und lässt ihn an schlechten Tagen zum Brüllen neigen. Es macht ihn auch ein bisschen pingelig, wenn es um mich geht; Er umschwirrt mich dann ständig, weil er möchte, dass für mich alles gut ist, als wolle er das kompensieren, was für ihn schlecht gelaufen ist. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ich ihm öfter sehr wütend sage, dass er mich allein lassen soll.

Die höchste erreichbare Form von geistiger Gesundheit ist die Bereitschaft, Probleme zu verstehen und zuzugeben.

Die höchste erreichbare Form von geistiger Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Problemen, sondern die Bereitschaft, sie zu verstehen und zuzugeben. Je besser man sie kennt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass man sie auslebt – oder sie in einen Mantel der Verleugnung hüllt.

Es ist eine große Erleichterung für Kinder, in einer Familie aufzuwachsen, in der Themen so wenig schambehaftet diskutiert werden wie Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen; es sollte ebenso üblich sein, einen Erwachsenen über seine Ängste klagen zu hören wie über seinen kaputten Zeh – oder über sein geringes Selbstwertgefühl wie über seine Sorgen bezüglich der Politik.

Anstatt ein Kind hervorzubringen, das kleinlich oder labil ist, wird man ein Vorbild dafür sein, wie man ein selbstbewusstes, entspanntes, nicht defensives Verhältnis zu psychischen Schwierigkeiten pflegen kann. Die Fähigkeit, Probleme zu teilen, gehört zu einer langsamen Entwicklung, bei der die Menschen lernen, mit ihrer Verletzlichkeit zurechtzukommen, sich selbst nicht mehr als Götter darzustellen und sich mit wohlbegründeter Demut als nur zeitweilig vernünftige Affen zu akzeptieren – unsere Größe liegt darin, uns endlich in die Lage zu versetzen, unsere wahre Natur zu anzuerkennen.

By The School of Life

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