Blog – The School of Life

Die Kunst des charmes

Obwohl charmante Menschen immer eine Freude sind, wenn wir ihnen begegnen, nehmen sich die meisten von uns selten vor, bewusst charmant zu sein. Lernen zu können, charmanter zu sein, klingt irgendwie absurd. Wir neigen dazu zu glauben, dass man entweder von Natur aus charmant ist oder eben nicht – und dass es unauthentisch wäre, bewusst daran zu arbeiten, diese Eigenschaft zu erlangen.

Mit anderen Worten: Es scheint falsch zu sein, sich zu viele Gedanken darüber zu machen, wie man die Menschen dazu bringt, uns zu mögen. Das ist schade, wenn man bedenkt, wie viele wichtige Dinge von einer Prise Charme begleitet werden müssen, um in der Welt voranzukommen. Ideen, Projekte, politische Vorschläge und Menschen müssen charmant präsentiert werden, um erfolgreich zu sein und ein Publikum zu gewinnen. Man könnte sagen, dass es ein bedauerlicher Verzicht auf das Glück sein kann, Charme nur denjenigen zu überlassen, die ihn spontan besitzen – oder den scheinbar Skrupellosen, die bewusst darauf aus sind, ihn direkt zu erlangen.

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Tatsächlich ist Charme eine Technik, die an sich weder böse noch moralisch ist und sowohl zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann. Der letztendliche Wert hängt davon ab, für welchen Zweck sie genutzt wird. Es wäre gut für die Welt, wenn die Mechanik von denjenigen mit besonderer Hingabe durchdringt werden würden, die gute Absichten haben.
Was sind also einige der wichtigsten Bestandteile des Charmes?

Vertrautheit

Wir wachsen mit einer Vorstellung von Höflichkeit auf, die darauf basiert, die meisten menschlichen Eigenschaften und Gefühle zu verdrängen. Das ist oft eine sehr gute Strategie. Es kann ziemlich unangenehm sein, zu viel Einblick in das innerste Wesen einer anderen Person zu bekommen: ihre Besessenheit, Neid, Rachsucht, Verzweiflung oder ihre Gerüche. Verdrängung erfüllt allgemein eine wichtige Funktion.
Dennoch können wir über das Ziel hinausschießen. Es kann passieren, dass wir Höflichkeit mit einer steifen Zurückhaltung assoziieren und zu schüchtern sind, wenn es um die tieferen, appetitlicheren, impulsiveren und emotionaleren Seiten unseres Wesens geht – was dazu führt, dass wir andere durch die leere Gefühlslosigkeit unserer Fassaden eher abstoßen als anziehen.

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Der charmante Mensch versteht, dass es wichtig ist, andere für sich zu gewinnen, indem er*sie behutsam einige seiner*ihrer persönlicheren Seiten offenbart. Zum Beispiel äußern sie eine Meinung, die gegen den Mainstream geht, aber eher der Wahrheit entspricht (die Museumsausstellung war wirklich etwas langweilig). Oder sie teilen eine Angst, ein Bedauern oder einen Wunsch mit –Handlungen, die anderen Einblicke in verwundbare, intime Anteile geben. Vielleicht geben Sie zu, dass sie sich wegen eines bevorstehenden Treffens Sorgen machen, manchmal nostalgisch an ihre Kindheit zurückdenken oder ab und zu das Bedürfnis haben, zu weinen, wenn sie eine sehr alte Person auf der Straße sehen. Bei einem förmlichen Abendessen könnten sie zum Beispiel sagen, dass sie gerne eine Cola trinken würden.
Der charmante Mensch achtet jedoch darauf, dass diese Offenbarungen nicht in Forderungen an andere überschwappen: Bedauern wird nicht zu Jammern, Wünsche werden nicht zu Zwängen, unkontrollierbare Gelüste stören nicht die Routine. Die charmante Person ist Herr*in über sich selbst, sie gewährt uns einen Einblick in ein Selbst, das zugleich komplex und begrenzt ist.

Herzlichkeit

Wenn wir versuchen, andere für uns zu gewinnen, achten wir darauf, dass sie sich wohlfühlen, entspannt sind und alles haben, was sie brauchen. Gastfreundschaft ist das Herzstück des Charmes.
Wenn wir jedoch steif (und ängstlich) sind, haben wir ein unvorteilhaftes Bild davon, wie andere Menschen wirklich sind und was sie brauchen könnten. Dadurch können wir keine überzeugenden Gesprächsthemen finden, keine Aktivitäten vorschlagen, die ihnen gefallen könnten, keine interessanten Dinge zeigen oder ihnen etwas Leckeres zum Essen anbieten.

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Der Grund für unser mangelndes Verständnis ist, dass wir vergessen, dass andere Menschen uns in den meisten Bereichen sehr ähnlich sind – heißt: sie unterscheiden sich ziemlich von der vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellung davon, wie “normale” Menschen sind. Auch sie teilen wahrscheinlich einige unserer weniger angesehenen, aber dennoch tief verwurzelten und wichtigen Gedanken und Bedürfnisse. Obwohl nichts an ihrem gegenwärtigen Verhalten darauf hinweisen würde, wissen auch sie – so vermutet die “warmherzige” Person (aus dem Vertrauen in ihre eigene Akzeptanz, das in einer nicht beschämenden Kindheit aufgebaut wurde), dass sie sich gerne auf dem Sofa lümmeln, ungezwungen Dinge aus dem Kühlschrank essen, kichern, eine bestimmte Sendung im Fernsehen gucken oder ein paar lustvolle Gedanken teilen möchten. Die warmherzige Person ist sich ihres eigenen grundlegenden Anstands sicher und kann ihre eigenen Erfahrungen dazu nutzen, die Wünsche anderer Menschen zu interpretieren. Sie fragen sich selbst, wie sie sich an der Stelle des anderen fühlen würden – und nutzen diese Informationen in dem aktiven Versuch, anderen das Gefühl von Wohlbefinden zu vermitteln

Charmante Menschen werden richtig darin liegen, wenn sie vermuten, dass die andere Person sich vielleicht ein paar Stunden ausruhen möchte oder Lust hat, über das Paar am Nachbartisch zu diskutieren oder zu altmodischer Musik zu tanzen. Sie wissen, wie wichtig es ist, den Weg zum Badezimmer zu kennen, und fügen hinzu, dass sie selbst oft dorthin müssen. Sie wissen, dass es für jeden (nicht nur für sie) beängstigend ist, eine neue Person kennen zu lernen – und spielen lässig auf ihre Schüchternheit an.

Die warmherzige Person hat das Vertrauen, immer Gemeinsamkeiten zu finden, gemeinsame Themen des verletzlichen Lebens, die Unterschiede in Kulturen, Altersgruppen oder Hierarchien überwinden können.

Gleichheit

Bei vielen Begegnungen gibt es jemanden, der mächtiger oder wichtiger ist als der andere; eine Ungleichheit, die zu Spannungen und Ängsten führen kann – trotz aller Bemühungen, höflich zu sein.

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Die mächtige, aber charmante Person erkennt, dass die vorherrschende Angst ihres Publikums darin besteht, dass ihr Status sie arrogant und unverwundbar gemacht hat. Sie achtet daher sehr darauf, schnell etwas zu sagen oder zu tun, dass ihre grundsätzliche Gleichheit in Bereichen außerhalb ihrer offensichtlichen Überlegenheit bestätigt; er*sie mag CEO sein, aber ihr*sein Kleinkind hatte heute einen Wutanfall (Kinder sind die besten “Gleichmacher”). Sie haben vielleicht sehr viel Geld, aber sie haben ein romantische Enttäuschung erlebt. Er ist der König, aber er hätte gerade nichts lieber als ein Käsesandwich, so wie Sie sicher auch. Die Schwächen und gewöhnlichen Sehnsüchte der Mächtigen haben eine zutiefst charmante Dimension, weil wir so dringend hören müssen, dass man auch mit Macht unsere eigenen Sorgen, Bedürfnisse und Ängste versteht. Was wir als charmant bezeichnen, ist im Grunde nur eine große Erleichterung darüber, dass wir mit unseren Sorgen und Schwierigkeiten in einer geschichteten, hierarchischen Welt nicht allein sind.

Unerschütterlichkeit

Die charmante Person beschwichtigt unsere Ängste, die zwar universell, aber immer spezifisch sind: dass wir im Grunde unseres Herzens seltsam, merkwürdig oder beschämend sind. Sie signalisieren uns, dass wir Spielraum haben, um die weniger bekannten und angesehenen Seiten unseres Wesens zu zeigen – weil sie, wie sie auf subtile Weise andeuten, selbst ein wenig seltsam sind und einen gutmütigen, unerschrockenen Sinn für die Allgegenwärtigkeit des Wahnsinns haben.

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Ohne die Angst, komisch zu sein, können wir dann erklären, was wir selbst wirklich brauchen: vielleicht eine weitere Decke, ein Bett, ein Gespräch über einen Liebhaber oder einen längeren Ausflug zur Toilette.

Neugierde

Der charmante Mensch ist neugierig auf andere. Er stellt viele durchdringende und energische Fragen an die neue Person, der er*sie gerade begegnet ist.

Ihre Neugier ist nicht nur aufgesetzt, sondern das Ergebnis einer grundlegenden intellektuellen Haltung zur Bildung. Im Grunde genommen hat die neugierige Person das Gefühl, dass sie von so ziemlich jedem Menschen, den sie trifft, lernen kann. Sie beschränken ihre Neugierde nicht auf bestimmte Situationen oder Menschen. Sie erkennen, dass es überall und in jedem Gesprächsthema etwas zu lernen gibt.  Daher werden sie durch soziale Begegnungen bereichert und nicht ärmer. Der Bericht über den Urlaub eines Menschen, die neueste Wendung im Leben eines Popstars, eine Reflexion über das Wetter – all das kann ein guter Ausgangspunkt für bedeutende Entdeckungen sein, und deshalb wird die Gesprächsrichtung ihrer Gesprächspartner nie einfach abgeblockt, sondern sorgfältig erweitert und vertieft.

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Die neugierige Person spürt, dass Teile der Wahrheit in einer Vielzahl von Themen stecken – eine kognitive Version der christlichen Idee, dass in jedem Menschen ein Stück des Göttlichen steckt. Sie fühlt keine Begrenzung darin, wo sie auf etwas Interessantes stoßen könnte.

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Diese Faktoren sind es, die einen Menschen charmant machen. Sie sind keine mysteriösen, zufälligen Gaben der Natur. Sie sind vielmehr das Ergebnis bestimmter strategischer Kenntnisse und Einsichten. Um charmanter zu werden, muss man sich diese Ideen über Wärme, Gleichheit, Unerschütterlichkeit und Neugierde verinnerlichen.
Charme ist nicht einfach nur eine nettes Extra, sondern zentral für den Umgang mit praktischen Problemen. Oftmals werden wir von Schwierigkeiten mit anderen Menschen aufgehalten, die wir überzeugen, motivieren und auf unsere Seite bringen wollen.  Charme ist ein wichtiges Werkzeug, um Wirkung zu erzielen. Je wichtiger und lohnenswerter unsere Ziele sind, desto wichtiger ist es, Charme einzusetzen, um sie voranzubringen
Charme ist weder oberflächlich noch etwas, das nur Menschen mit fragwürdigen Absichten vorbehalten ist. Im besten Fall ist er eine Tugend, die es guten Menschen ermöglicht, ihren Einfluss in der Welt zu vergrößern.