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Wie wir unsere wichtigsten Gedanken einfangen

Wie wir unsere wichtigsten Gedanken einfangen

Zu den besonders frustrierenden Eigentümlichkeiten unseres Gehirns gehört es, dass sich Gedanken so schnell verflüchtigen. Dies gilt umso mehr, je interessanter und bedeutsamer sie sind – als bestünde ein teuflischer Zusammenhang zwischen der Nützlichkeit eines Gedankens und der Wahrscheinlichkeit, mit der er sich unserem Zugriff entzieht.

Gerade unsere besten Ideen scheinen etwas Luftiges an sich zu haben, so schwerelos schweben sie davon, wenn wir uns nähern. Interessanterweise haben viele große Denker Ideen mit geflügelten Wesen verglichen. Der griechische Philosoph Plato beschrieb den Geist als einen großen Käfig, in dem eine Vielzahl von Vögeln (= Ideen) umherschwirren. Einfangen können wir diese Vögel nur, so Plato, wenn sie auf der Stange hocken. Keine einfache Sache, denn meistens flattern die Vögel aufgeregt von einer Käfigecke in die andere. Auszumachen sind da lediglich – und sehr undeutlich – ein paar Federn.

Plato wusste, dass uns zwar die großartigsten Ideen durch den Kopf gehen können, es aber ziemlich schwierig ist, sie zum Bleiben zu bewegen. Für den russischen Romanschriftsteller (und Schmetterlingsforscher) Vladimir Nabokov sind Ideen wie Schmetterlinge. Ein begnadeter Denker, befand Nabokov, müsse lernen, wie ein geduldiger Schmetterlingsforscher zu warten, bis die Schmetterlinge ins Netz des Bewusstseins fliegen.

Virginia Woolf wiederum beneidete ihren Kollegen Marcel Proust zutiefst um seine erstaunliche Fähigkeit, so viele Gedankenschmetterlinge zu fangen und all die schwachen Sinneseindrücke und flüchtigen Gefühle in Worte zu fassen, die sich unserer Wahrnehmung in der Regel entziehen: „Ach, wenn ich doch nur auch so schreiben könnte!“, beschwerte sie sich. „Endlich ist es jemandem gelungen, das ewig Flüchtige dingfest zu machen…und es dann noch in diese wunderbare, alles überdauernde Form zu gießen. Das Bemerkenswerte an Proust ist diese Mischung aus extremer Sensibilität und extremer Verbissenheit. Er erspürt noch die schmetterlingshafteste aller Nuancen und erforscht sie bis ins Letzte. Er ist zäh wie Leder und vergänglich wie die Pracht eines Schmetterlings.“


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WAS FÜR UNSERE PERSÖNLICHE ENTWICKLUNG BESONDERS RELEVANT WÄRE, IST MITUNTER AUCH ZIEMLICH FURCHTERREGEND

Dass wir ausgerechnet unsere gewichtigsten Gedanken nicht dingfest machen können, hat einen ganz konkreten Grund. Denn was für unsere persönliche Entwicklung besonders relevant wäre, ist mitunter auch ziemlich furchterregend. Schickt sich ein bestimmter Gedankenvogel oder Schmetterlingsgedanke an, einen Platz auf der Stange einzunehmen oder ins Netz zu fliegen, läuten in unserem Kopf die Alarmglocken. Wir geraten so sehr in Panik, dass die kleine Kreatur im letzten Moment von ihrem Vorhaben zurückschreckt. Aus Furcht lassen wir von unserem neuen Gedankengang ab und kehren zurück in die Behaglichkeit unserer weniger wilden, vertrauteren, wohlgeordneten Welt.

Dabei ist es gar nicht erstaunlich, dass uns beim Denken so oft angst und bange wird. Neue Ideen bedrohen den mentalen Status Quo. Sie liegen im Zwist mit unseren Verpflichtungen und Gewohnheiten. Ein außergewöhnlicher Gedanke kann uns von all dem entfremden, was man um uns herum für normal hält. Er kann von der Einsicht künden, dass wir bei einem wichtigen Lebensthema schon sehr lange aufs falsche​ Pferd setzen. Insgeheim wünschen wir uns vielleicht sogar, dass sich ein Schmetterlingsgedanke in Luft auflösen möge, weil wir uns Verlust und Reue sparen wollen. Nähmen wir unseren Gedanken ernst, müssten wir womöglich eine Beziehung abbrechen, einen Job kündigen, einen Freund fallenlassen, uns bei jemandem entschuldigen, unsere Sexualität neu überdenken oder mit einer lieb gewonnenen Gewohnheit brechen.

WENN DAS GEHIRN NUR DENKEN SOLL, TUT ES DAS NICHT BESONDERS GUT

Um den Mut zu fassen, unseren Geist besser kennenzulernen, genügt es nicht, uns stumpf dazu aufzufordern, in ein stilles Kämmerlein zu gehen und möglichst intensiv nachzudenken. Besser ist es, ein paar mentale Tricks anzuwenden, damit auch neue wichtige, aber beängstigende Gedanken eine Chance haben, sich zu entwickeln. Dabei kann man sich eine besondere Eigenschaft des Gehirns zunutze machen: Darf es nichts tun als denken, denkt es häufig nicht besonders gut. Ist es jedoch mit Routinetätigkeiten beschäftigt, entspannt es sich oftmals, statt ständig Wache zu halten.

Darum beschäftigt es sich während einer langen Reise allein im Zug oder im Flugzeug viel bereitwilliger mit herausfordernden Ideen. Dann nämlich genießen wir die beruhigende Sicherheit, uns weit entfernt von unserem normalen Leben zu befinden; treffen wir eine Entscheidung, müssen wir sie nicht sofort ausführen. Etwas Ähnliches kann passieren, wenn wir allein in ein Café gehen oder einen Spaziergang auf dem Land machen. Automatisch setzen wir Schritt vor Schritt, halb registrieren wir, was um uns herum vorgeht. Beides ist weder wichtig noch dringlich. So können unsere tieferen und vielleicht schrägeren Gedanken die paranoideren, rigideren Zonen des Geistes unbemerkt durchdringen.

Wir sollten akzeptieren, dass unser Gehirn ein merkwürdiges, empfindliches Werkzeug ist, das sich unseren direkten Befehlen entzieht und verblüffend viel Talent darin besitzt, ausgerechnet die Gedanken zu bannen, die uns retten oder dabei helfen könnten, aufzublühen.


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