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Wie wir uns selbst belügen

Wie wir uns selbst belügen

Uns selbst besser kennen zu lernen, klingt nach einem Ziel, auf das sich alle einigen könnten. Dabei verkennen wir allerdings, wie wenig interessiert wir daran sind, entscheidende, aber beunruhigende Dinge über uns selbst zu erfahren. Anders als wir behaupten, wollen wir offenbar am liebsten nicht viel über uns wissen.

Um uns vor uns selbst zu schützen, bedienen wir uns einiger Techniken, die wir hier als „Selbstlügen“ bezeichnen wollen: eine Reihe erstaunlich geschickter Manöver, die es ermöglichen, unangenehme Gedanken zu verdrängen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. So gelangen wir in ruhigeres Fahrwasser und erhalten unser Gleichgewicht zurück. Dank solcher Selbstlügen sind wir überzeugt, jemanden zu hassen, zu dem wir uns eigentlich hingezogen fühlen (den wir aber nicht haben können). Oder wir sind deprimiert, statt uns über eine Person zu ärgern, die uns eindeutig Unrecht getan hat – wir reden uns dann ein, dass wir sie einfach zu sehr schätzen …

Die Lügen sind wirkungsvoll, haben aber einen hohen Preis. Indem sie Gedanken unterdrücken, von denen unser Wachstum abhängt, binden sie Energien und lösen Symptome und Folgeerkrankungen aus. Jeder unterdrückte Gedanke belastet unseren Geist; jedes nicht empfundene Gefühl erzeugt einen Strudel unterdrückter Energien. Unsere Selbstlügen verschaffen uns kurzfristig Ruhe – allerdings auf Kosten unserer langfristigen Entwicklung.

Zu verstehen, wie die Lügen funktionieren, zaubert sie zwar nicht weg. Aber wir gewinnen eine Ahnung davon, was los ist. Und erhöhen unsere Toleranz für wichtige Einsichten über uns selbst.

Niemand kommt ohne solche Selbstlügen aus. Was wir als den Charakter eines Menschen bezeichnen, ist in hohem Maß Ergebnis der individuellen Art und Weise, wie er oder sie mit den schmerzhaften Seiten der eigenen Persönlichkeit umgeht.

So können unsere Selbstlügen aussehen:

1. Die grandiose Selbstlüge

In der Vergangenheit fühlten wir uns unbedeutend; unsere Bezugspersonen demütigten und vernachlässigten uns. Nie vermittelten sie uns das Gefühl, ein Recht darauf zu haben, zu existieren. Jahre später, erwachsen und leistungsfähig, setzen wir darum ziemlich verkrampft Geld, Ansehen und kulturelles Kapital ein, um zu demonstrieren, wie besonders wir sind – ohne allerdings selbst daran zu glauben. Unsere Grandiosität schützt uns vor der Begegnung mit dem vernachlässigten, ohnmächtigen Kind, das immer noch irgendwo in uns schluchzt und verzweifelt.

2. Die Lüge über den gesunden Menschenverstand

Sexualität, Liebe, Geld: All das ist kompliziert und mitunter schmerzhaft. Es gibt so Vieles, über das wir nachdenken, das wir betrauern müssten! Aber dazu fehlen uns Mut und Mittel. Darum erklären wir die Psychologie, diese Disziplin, die versucht, unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst zu lenken, als Hype und „Psycho-Bla-Bla”. Ihre Bemühungen tun wir als fadenscheinigen Unsinn ab. Wir sind stolz darauf, die Dinge beim Namen zu nennen und klammern uns fest an dem tröstlichen Gedanken, dass wir nicht so verquer, kompliziert und töricht sind wie alle anderen.


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3. Die manische Lüge

Wir stürzen uns eilig von einem Projekt ins nächste. So bleibt keine Zeit, uns mit unseren merkwürdigen Wünschen und Ängsten auseinanderzusetzen. Der letzte Tag, der frei von Verpflichtungen war, kann gut und gern ein Jahr her sein. Wir stecken unsere manische Energie in irgendetwas ¬ Arbeit, Nachrichten, Sport, Literatur, Drogen, Gartenarbeit –, um all die unbeantworteten Fragen, die in uns toben, in Schach zu halten. Nichts wäre schlimmer, als mit uns selbst in einem stillen Raum zu sitzen.

4. Die sadistische Lüge

Um uns stark und kontrolliert zu fühlen, fügen wir anderen die Schmerzen zu, die wir einst als Kinder ertragen mussten. Wir geben einem jüngeren Kollegen das Gefühl, unfähig zu sein, wir stellen sicher, dass unsere Kinder wissen, wie wenig sie wert sind, wir kritisieren unsere*n Partner*in dafür, nicht perfekt zu sein. In unserem tiefsten Innern gibt es nur zwei Rollen, die ein Mensch spielen kann: Opfer oder Täter. Und wir wissen genau, welche Rolle wir spielen.

5. Die masochistische Lüge

Wir fühlen uns zu schwach, um uns vor Leid zu schützen. Aber wir sind nicht zu schwach für den Beschluss, ein gewisses Vergnügen am Leiden zu empfinden. Also suchen wir aktiv nach Partner*innen, die uns nicht guttun. Wir achten darauf, uns nach jedem Erfolg selbst zu kritisieren und haben eine eigentümliche Freude daran, wieder einmal schlecht behandelt zu werden. Wir leiden. Aber wenigstens haben wir es diesmal selbst in der Hand, uns den Schmerz zuzufügen.

6. Die Vermeidungslüge

Wir möchten anderen so gerne nahe sein! Aber weil uns bestimmte Menschen beim Versuch, ihnen nah zu sein, schwer verletzt haben, sind wir zu einem einfachen, erträglicheren Schluss gelangt: Wir brauchen eigentlich niemanden! Das Gerede von emotionaler Verbundenheit ist übertrieben! Wir treiben sehr gerne Sport oder basteln und würden – ganz ehrlich! – das Wochenende und den Rest unseres Lebens viel lieber in unserer eigenen Gesellschaft verbringen.

7. Die Vorruhestandslüge

Beunruhigenderweise ist Vieles an uns ziemlich toll! Wir sind klug, charmant und erfolgreich. Aber unsere Triumphe bergen enorme Risiken. Jemand, von dem wir einst vollkommen abhängig waren, war mit unseren Erfolgen unzufrieden; er*sie wünschte sich, dass wir alles vermasseln. Und so scheitern wir auch heute noch regelmäßig ¬ aus innerer Loyalität gegenüber einer zugleich bedrohlichen und bedrohten Bezugsperson aus unserer Vergangenheit. Gefangen in der Wahl zwischen Sieg und Niederlage, treten wir den Rückzug an. Andere fragen sich, warum wir dieses oder jenes Ziel aufgegeben haben. „Es sah so vielversprechend aus…”, denken sie. Aber genau das war natürlich das Problem.

8. Die Selbsthass-Lüge

Jemand war einmal sehr unfreundlich zu uns, hat uns eingeschüchtert und uns das Gefühl vermittelt, unbedeutend zu sein. Es wäre nur fair, diese Person zu hassen. Aber das würde zu sehr schmerzen. Unsere Bescheidenheit und der Wunsch, von den Menschen, bei denen wir aufgewachsen sind, nur das Beste zu denken, hindert uns daran. Also erzählen wir eine andere Geschichte: Dass unsere Bezugspersonen gut genug waren und das eigentliche Problem bei uns selbst lag. Wir wurden nicht furchtbar schlecht behandelt: Wir sind furchtbar! Niemand hat uns geschadet: Wir sind einfach nur dumm oder hässlich! Wir leben nicht in einer Welt der Willkür und Ungerechtigkeit: Wir haben die schlechte Behandlung verdient! Wir ziehen es vor, selbst schuld zu sein, statt den verstörenden Gedanken zuzulassen, dass jemand, den wir verehrt haben, grausam zu uns war.

9. Die magische Lüge

Wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten können unendlich hart sein: Die Laborergebnisse deuten darauf hin, dass wir innerhalb weniger Jahre eine schwere, chronische Krankheit entwickeln. Die Naturgesetze der Ökonomie und Romantik sind oft nicht weniger streng: Wir werden vermutlich nie stinkreich sein oder der*dem idealen Partner*in begegnen. Weil die Wahrheit so grausam ist, beginnen wir, mit den Grundvoraussetzungen der Realität zu spielen: Wir essen die Wurzel einer bestimmten Pflanze, folgen einer bestimmten Verschwörungstheorie, rezitieren ein Mantra oder visualisieren Gesundheit und Erfolg, um die „vernünftigen“ Pessimisten zu besiegen. Magisches Denken kann Verzweiflung in Wahn verwandeln.

10. Die zynische Lüge

Auch Zynismus kann Schutz bieten. Wir greifen auf ihn zurück, um die Qualen zu vermeiden, die sich mit hohen Erwartungen verbinden. Es ist viel einfacher daran zu glauben, dass wir generell dem Untergang geweiht sind, das Leben von Natur aus schrecklich ist und Zufriedenheit nichts als eine Fata Morgana sein kann, als Zuversicht zu riskieren.

Uns von diesen Verteidigungsmechanismen zu lösen, ist eine lebenslange Aufgabe. Es fällt nicht leicht, Techniken loszulassen, die so gut gegen Schmerzen wirken. Darauf zu verzichten, verlangt Vertrauen. Vertrauen darauf, dass sich der Verzicht lohnt; dass unsere Symptome nachlassen, je mehr wir sie verstehen; dass wir leichter leben, wenn wir an den Wurzeln unseres Selbstbewusstseins arbeiten. Der wahre Erwachsene – der wir so gern wären – könnte als jemand definiert werden, dessen Bedürfnis nach Selbstlügen nachgelassen hat. Es ist ein Mensch, der endlich bereitwillig den Preis dafür zahlt, die eigene Wahrheit zu kennen.


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