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Warum wir behutsamer miteinander sprechen sollten

Warum wir behutsamer miteinander sprechen sollten

Viele Probleme mit uns nahestehenden Menschen entstehen, weil wir versuchen, anderen unsere Vorstellungen aufzuzwingen. Vorstellungen davon, wer sie sind, was sie ausmacht und was sie brauchen, um glücklich zu sein. Wir können mit unseren Annahmen völlig richtig liegen. Die unvermittelte, direkte Art und Weise, mit der wir anderen Menschen unsere Vorstellungen aufdrängen, lässt sie allerdings zurückschrecken. Empört und verärgert weisen sie alles zurück, was wir ihnen zu sagen haben.

Soll eine Wahrheit den*die andere*n wirklich erreichen, müssen wir behutsamer vorgehen. Darum vermeiden Psychotherapeut*innen im Gespräch mit ihren Klient*innen starke Thesen und unverrückbare Interpretationen. Niemals erwischen wir sie bei einem Satz wie: „Sie sind unreif.“ Oder: „Es hat keinen Sinn, sich zu beschweren!“ Sehr unwahrscheinlich ist auch, dass sie behaupten: „Ihre Mutter ist schuld!“ Oder: „Verlassen Sie endlich diesen Kerl, der ist zu nichts zu gebrauchen!“

Stattdessen werden kunstvolle Umschreibungen verwendet, die so federleicht daherkommen, als wollte man uns streicheln. Zart und anmutig sind die Wörter, mit denen die Therapeut*innen ihre Rede schmücken. Vielleicht und möglicherweise, heißt es da, ein wenig und ein bisschen. Zu spüren ist Bedauern und ein Hauch von Traurigkeit. Alles in allem etwas, wogegen sich kaum ankämpfen lässt.

Universelle Kritik versetzt uns in Panik

Zudem sind sich Therapeut*innen bewusst, dass es von Vorteil ist, „Ich spüre da…“ oder „Auf mich wirkt es so, als ob…“ zu sagen, wenn sie das Verhalten oder die Einstellung ihrer Klient*innen analysieren. Sie wissen, wie leicht uns universelle Kritik in Panik versetzt. Und dass wir die Einschätzung einer einzelnen Person dem Urteil der Gemeinschaft oder gar: einer göttlichen Macht vorziehen. Darum verzichten sie auf donnernde Verallgemeinerungen zugunsten von Vorschlägen, die für uns leichter verdaulich sind. Sie sagen: „Ich habe das Gefühl, dass Sie sich etwas zurückziehen…”, statt: „Sie verweigern sich”. „Ich habe das Gefühl, dass Sie ein bisschen Wut spüren“, statt: „Sie sind wütend”.

Sie wissen, dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen: „Sie verschwenden Ihre Zeit“, und: „Ich habe das Gefühl, dass Sie möglicherweise gerade nicht die Ergebnisse erzielen, die Sie sich wünschen …”. Zwischen: „Geben Sie nicht immer anderen die Schuld!”, und: „Ich habe den Eindruck, dass Sie versucht sein könnten, Ihren Freund dafür verantwortlich zu machen …”.

Manche Wahrheiten sind einfach zu wahr, um gehört zu werden.

Der Alltag ist zwar keine Therapiestunde aber auch hier möchten wir häufig mit anderen Menschen teilen, was wir über sie zu wissen glauben. Urplötzlich kann es uns so vorkommen, als ließen sich all ihre Probleme auf ihre Mutter zurückführen. Oder als müssten sie sich dringend von dem unheilvollen Einfluss ihrer jüngeren Schwester befreien. Diese Erkenntnisse sind nicht unbedingt falsch. Im Gegenteil: Sie besitzen eine besondere Kraft. Das meiste, was wir uns nicht anhören wollen, ist keineswegs wertlos, es überfordert uns nur und muss verdrängt werden, um unser emotionales Gleichgewicht zu erhalten. Manche Wahrheiten sind einfach zu wahr, um gehört zu werden. Und genau darum aktivieren sie die Abwehrmechanismen des*der anderen auf so destruktive Weise.

Der Gefahr, andere mit unseren Thesen zu ersticken, begegnen wir, indem wir dem Drang widerstehen, ihnen jederzeit geradeheraus zu sagen, was nicht mit ihnen nicht stimmt. Ganz gleich, wie genervt wir sind oder wie spät es ist: Wir sollten uns niemals zu felsenfesten Diagnosen oder Analysen verleiten lassen. Es hat absolut keinen Sinn zu sagen: „Das liegt alles an deinem Vater…”, oder: „Du hast Angst vor Intimität…”.

Beschäftigt man sich erst seit kurzer Zeit mit Psychologie, ist man möglicherweise versucht, mit all den frisch gewonnenen, faszinierenden Ideen nur so um sich zu werfen. Will man aber, dass einem zugehört wird, sollte man darüber nachdenken, wie man seine Erkenntnisse vermittelt.

Um zum*r anderen vorzudringen, müssen wir auf harsche Urteile verzichten. Besser, wir erwecken den Eindruck, uns an eine Frage heranzutasten. Unseren vorsichtigen, rein spekulativen und vorläufigen Überlegungen sollte nichts Entschiedenes oder Endgültiges anhaften. Wir haben wirklich keine Ahnung, was wir da sagen, stellen einfach irgendetwas vorsichtig in den Raum und liegen dabei – mit ziemlicher Sicherheit – völlig falsch.

An dieser Stelle können wir auf eine der überzeugendsten Formulierungen im Wortschatz der Psychotherapeut*innen zurückgreifen: „Ich frage mich…“. Harsche Aussagen formulieren wir entsprechend um. Früher hätten wir vielleicht gesagt: „Du versuchst, jemanden zu verführen, der dich nicht will…”. Jetzt sagen wir: „Ich frage mich, ob du versuchst, jemanden zu verführen, der…”. Natürlich können wir immer noch jederzeit mit der Tür ins Haus fallen: „Hör auf, so streng mit den Schlafenszeiten zu sein!“ Sinnvoller wäre allerdings zu sagen: „Ich frage mich, ob du vielleicht ein bisschen zu viel Wert auf Routinen legen…“

Kleine Schritte können enorme Wirkung entfalten – bei uns und bei anderen.

Das sind gewiss kleine Schritte. Sie können aber eine enorme Wirkung entfalten – bei uns und bei anderen. Und das verrät uns etwas sehr Wesentliches über uns selbst: Wir mögen es gar nicht, dass andere ein allzu klares Bild von uns haben. Vor allem, wenn es um Aspekte geht, die zwar eindeutig wahr, aber schwer zu akzeptieren sind. Sanfte Worte allerdings helfen uns, mit schwierigen Einsichten zurechtzukommen.

Es liegt nun mal in der menschlichen Natur, dass das, was uns ermöglicht, einer Wahrheit anders als mit Wut und Ablehnung zu begegnen, nicht mehr und nicht weniger ist als ein winziges, freundliches, aber alles entscheidendes Vielleicht.

Vielleicht.

 

By The School of Life

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