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Warum manche Menschen nicht wissen, wer sie sind

Warum manche Menschen nicht wissen, wer sie sind

Es ist ein verblüffendes Phänomen, dass viele Menschen auf der Erde umherwandern, und ihnen – ohne dass es dafür allzu viele äußere Anzeichen gibt – jegliches Gefühl für sich selbst fehlt.

Damit ist gemeint, dass sie grundlegend unsicher sind, wer sie eigentlich sind, was sie wollen und wem sie vertrauen sollen. Es ist, als fehle diesen Unglücklichen ein fester Kern. Im Stillen fragen sie sich nicht: „Was mag ich?“, sondern: „Was soll ich mögen?“; nicht: „Was finde ich gut?“, sondern: „Was sollte ich gut finden?“; nicht: „Was finde ich lustig?“, sondern: „Wann sollte ich lachen?“

Wenn wir sie aufmerksam beobachten, können wir schnelle, fast beliebige Wechsel in ihren Ansichten feststellen: Sie begeistern sich für diese Künstlerin oder diese Jacke oder diese politische Meinung … aber in Wirklichkeit bevorzugen sie eine andere, und dann wieder eine andere. Sie rufen unwillkürlich und ständig einer Welt zu, die sie verwirrt und erschreckt: Wer soll ich sein? Was ist die richtige Meinung?

Diese armen Seelen sind in der Regel das Produkt einer ganz spezifischen Art von Kindheit. Als sie klein waren, waren sie mit einer Umgebung konfrontiert, in der ihre Individualität für ihre selbstsüchtigen Bezugspersonen keine Rolle gespielt hat. Mutter oder Vater waren nie in der Lage, die eigenen Bedürfnisse für eine Weile beiseite zu schieben, sich auf die Augenhöhe des Kindes zu begeben und zu fragen: Wer ist dieses außergewöhnliche neue Mitglied der Menschheit, zu dessen Entstehung ich beigetragen habe? Was sind seine besonderen Neigungen, Vorlieben und Abneigungen? Was hat es mir zu sagen?

Für eine solche Selbstaufgabe waren sie viel zu verwirrt und zerbrechlich. Sie konnten sich nicht auf das Kind einstellen – und das Kind wiederum konnte sich nicht auf sich selbst einstellen. Denn wir können nur dann herausfinden, was wir denken, wenn jemand in den ersten Tagen genügend Geduld hat, um unseren eigenen Selbstfindungsprozess zu erleichtern; wenn uns nicht jemand sofort mit den Worten „Mach dich nicht lächerlich“ anschreit, sobald wir eine Meinung äußern. Es gelingt uns nur, wenn uns keine erwachsene Person mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln klarmacht, dass ihr Weg der einzig richtige ist.


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Das „selbst-lose“ Kind wird es mit einem Egoisten zu tun gehabt haben, der es einfach gezwungen hat, einer bereits vorgegebenen Agenda zu folgen: Dies sind die Bücher, die du für toll halten musst; der einzige Weg, ein guter Junge oder ein gutes Mädchen zu sein, besteht darin, in dieser Sportart oder jenem Schulfach gut zu sein; und später, Banker*in oder Tierärzt*in zu sein, und so weiter – ohne sich in irgendeiner Weise darum zu kümmern, wie sich dies für den kleinen Menschen anfühlen könnte, der biologisch darauf programmiert ist, sie zu verehren und zu bewundern. Daraus wird dann eine Moral gezogen: Das Überleben hängt von der Einhaltung der Vorschriften ab. Die Bedingung für die Existenz ist die Preisgabe der eigenen Identität.

Selbstlose Menschen können sehr charmant sein. Ihr Verhalten kann außerordentlich höflich und schmeichelhaft sein. Sie sind so gepolt, dass sie herausfinden, was uns gefällt, und es uns widerspiegeln. Sie tun nicht nur so, als würden sie für ein paar Minuten unserer Meinung folgen, sondern sie suchen wirklich nach unserer Weltanschauung und verlieren sich darin.

Niemand verzichtet auf ein Selbst, ohne ein erhebliches Maß an Wut und Unzufriedenheit

Aber der Umgang mit diesen Menschen birgt auch große Gefahren, denn niemand verzichtet auf ein Selbst, ohne ein erhebliches Maß an Wut und Unzufriedenheit zu entwickeln. Gleichzeitig können diese Gefühle nie richtig zum Vorschein kommen, weil diese selbstlosen Menschen nie die Möglichkeit hatten, ihre Bedürfnisse offen zu äußern. Das erste Mal, dass wir von einem Problem erfahren, das sie mit uns haben, ist, wenn es für sie unerträglich geworden ist.

Bis sich irgendwann der Wind dreht. Unser geliebtes Gegenüber-ohne-ein-Ich fängt einen neuen Job an, findet andere Freunde und beginnt, mit Leuten herumzuhängen, die er oder sie für besser hält.

An die Stelle ihrer Wertschätzung für uns tritt dann nicht nur ein sanftes Desinteresse, sondern möglicherweise tiefe Verachtung. Wir werden für die Person so abstoßend, wie wir einst außergewöhnlich waren. Sie sagt vielleicht plötzlich: „Du kennst mich nicht wirklich…“ oder „Du erwartest von mir, dass ich perfekt bin…“ Durch die Identität, die sie einst so eifrig von uns übernahm, fühlt sie sich jetzt beschränkt.

Es staut sich große Wut an, weil die Person fühlt, dass jemand ihre Identität unterdrückt hat – sie übersieht nur, dass das nicht wir waren.

Unfähig, zwischen Geliebt- und Kontrolliertwerden zu unterscheiden

Sie sagen vielleicht mit frühpubertärer Verachtung: „Du kontrollierst mich“, obwohl sie eigentlich meinen: „Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe dir die Kontrolle überlassen und weiß nun nicht mehr, was ich denken soll.“ Oder, noch tiefgründiger: „Ich bin unfähig, zwischen Geliebt- und Kontrolliertwerden zu unterscheiden, weil ein Elternteil, der eigentlich für Ersteres gedacht war, mehr an Letzterem interessiert gewesen ist.“

Wir werden möglicherweise wie ein Stein fallen gelassen, obwohl wir ironischerweise vielleicht genau richtig für die andere Person waren: Sie wusste nur nicht genug darüber, wer sie war, um ihren ursprünglichen Instinkten zu vertrauen.

Das Beste, was wir für Menschen tun können, denen ein Selbst verwehrt wurde, ist zu signalisieren, dass wir nicht, wie einst ihre Eltern, nur dazu da sind, ihnen eine andere Sichtweise aufzudrängen. Wir verlangen nicht, dass sie uns nacheifern. Wir wollen neugierig sein auf jemanden, den sie noch nie entdecken durften; wir wollen etwas sehr Unheimliches und Einzigartiges tun: sie wirklich kennen lernen.


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By The School of Life

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