
06/21/2025
Sebstliebe
Verzeih dir!
Häufig fällt es uns schwer, uns unsere Fehler zu verzeihen. Wieder und wieder kommen wir auf unsere Ausrutscher zurück und grübeln darüber nach, was passiert ist. Wie leicht hätten wir das ganze Schlamassel vermeiden können, wären wir nur nicht so dämlich gewesen! Der Gedanke an unsere Patzer quält ungeheuer: Niemals hätten wir diese E-Mail schreiben, nie uns auf eine bestimmte Person einlassen dürfen! Wir hätten die Ratschläge anderer befolgen und uns das Geld auf keinen Fall leihen dürfen…
Viele Fragen kommen dabei auf: Warum waren wir nicht weitsichtiger? Warum haben wir uns nicht beherrscht? Wie konnten wir nur so indiskret sein! Befriedigende Antworten erhalten wir darauf nicht. Darum findet unsere elende Fragerei kein Ende. Bestenfalls kommen wir zu dem Schluss, Mist gebaut zu haben, weil wir gierig, eitel, oberflächlich, maßlos und willensschwach waren.
Unser Selbsthass wächst, wenn wir uns mit unseren untadeligeren Zeitgenoss*innen vergleichen. Sie haben – anders als wir – von Anfang an alles richtig gemacht: Trotz aller Versuchungen sind sie standhaft und pflichtbewusst geblieben und haben an den richtigen Prioritäten festgehalten.
Wir haben Fehler gemacht, weil wir Menschen sind
Wollen wir solchen endlosen Selbsthass vermeiden, sollten wir allerdings eine andere Sichtweise einnehmen. Wir können unsere Fehler nicht bis in alle Ewigkeit mit dem einen oder anderen charakterlichen Defizit erklären! Richtiger ist eine allgemeinere Antwort. Sie lautet: Wir haben Fehler gemacht, weil wir Menschen sind. Und als Menschen gehören wir einer Spezies an, der das nötige Wissen und die Erfahrung fehlt, um immer gut und weise, freundlich und glücklich zu leben.
So genau wir unsere Defizite analysieren: Eigentlich befinden wir uns ohnehin im Blindflug. Darum sind wir dazu verdammt, irgendwann den einen oder anderen schweren Fehler zu machen. Wir können nun mal nicht wissen, wen wir heiraten sollen. Wir kennen unsere Talente nicht genau und haben keine Ahnung, wie sich die Wirtschaft entwickeln wird. Darum wissen wir auch nicht mit Sicherheit, in welche Karriere wir am besten investieren sollten. Wir können zwar manche Gefahren einigermaßen abschätzen, kennen aber die wahren Risiken nicht im Voraus. Alle Felder sind vermint. Annahmen, die in einer bestimmten Zeit getroffen wurden, erweisen sich in einer anderen als falsch. Auch die gesellschaftliche Moral kann sich ändern: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade noch akzeptabel war, gilt schon wenige Jahre später als unmoralisch.
Dass uns irgendwann etwas Schlimmes passiert, war von Anfang an abzusehen
Es ist gut möglich, dass uns das Leben an einer ganz konkreten Stelle besonders hart erwischt. Aber die Wunde, die entsteht, muss sich nicht ausbreiten. Dass uns irgendwann etwas Schlimmes passiert, war von Anfang an abzusehen – nicht weil wir persönlich so unfähig wären, sondern weil das menschliche Gehirn im Allgemeinen nicht dafür gerüstet ist, uns fehlerfrei durch den Hindernislauf des Lebens zu führen.
Doch wie ausgeprägt auch immer unsere Schwächen sind, vielleicht hatten wir ja zusätzlich auch mit einer besonders bösartigen Wendung des Schicksals zu kämpfen. Andere waren womöglich genauso voreilig oder unvernünftig wie wir, konnten aber (vorerst) unbehelligt Kurs halten. Das Schicksal hat uns einfach härter getroffen. Jeder, der wie wir auf die Probe gestellt worden wäre, hätte auf vergleichbare Weise versagt. Wir sollten die Rolle unglücklicher Zufälle in unserem Leben nicht unterschätzen.
Problematisch ist es auch, sich mit denjenigen zu vergleichen, die uns eine Nasenlänge voraus sind, statt unsere Situation im Ganzen zu betrachten. Wenn wir niedergeschlagen sind, starren wir neidisch auf alle, die gerade ganz oben stehen, ohne an die Hunderte, ja Millionen von Menschen zu denken, die ein ebenso grausames Schicksal erlitten haben wie wir selbst. Wir vergrößern unsere Probleme, wenn wir die Menschen nicht beachten, die genauso viel geweint und noch mehr verloren haben als wir.
Maßloser Selbsthass dient keinem nützlichen Zweck
Wir sollten uns auch nicht mit Leuten vergleichen, denen wir – oberflächlich betrachtet – ähneln, etwa, weil sie dasselbe Alter oder einen ähnlichen Bildungshintergrund haben, deren seelische Ausgangssituation aber eine völlig andere ist. Sie hatten nicht unsere Eltern, sie mussten nicht durchmachen, was wir durchgemacht haben, sie hatten nicht mit unserer emotionalen Unreife zu kämpfen. Wir scheinen ihnen zu gleichen, aber in Wirklichkeit hatten sie es vielleicht einfach besser. Wir sollten Mitgefühl für uns selbst entwickeln, indem wir uns vergegenwärtigen, was wir durchmachen mussten.
Etwas zu bedauern, kann hilfreich sein: Eine Bestandsaufnahme der eigenen Fehler hält uns vielleicht davon ab, beim nächsten Mal erneut über die schlimmsten Fallstricke zu stolpern. Aber maßloser Selbsthass dient keinem nützlichen Zweck; er ist masochistisch, wir können ihn uns nicht leisten. Ja, vielleicht waren wir dumm. Aber das ist durchaus nicht ungewöhnlich. Es bestätigt nur, dass wir Menschen sind, eine Tatsache, die unsere grenzenlose Sympathie und all unser Mitgefühl verdient.