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Über die Isolation

Über die Isolation

Irgendwann in den 1650er Jahren notierte der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal einen der kontraintuitivsten Aphorismen aller Zeiten: “Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.”

Ist das wirklich so? Still in einem Zimmer verweilen zu müssen, klingt eher nach einem Bestandteil einer besonders perfiden Form von psychologischer Folter. Was könnte der menschlichen Natur mehr zuwiderlaufen, als vier Wände zu bewohnen, wenn es einen ganzen Planeten zu erforschen gäbe?

Und doch stellt Pascals Idee eine unserer geläufigsten Überzeugungen in Frage: dass wir immer wieder an neue Orte gehen müssen, um neue und wertvolle Dinge zu fühlen und zu entdecken. Was wäre, wenn wir bereits einen Schatz in unserem Inneren hätten? Was wäre, wenn wir in unserem eigenen Gehirn bereits eine ausreichende Anzahl von eindrucksvollen, beruhigenden und interessanten Erfahrungen gesammelt hätten, die uns zehn Leben lang genügen würden? Was wäre, wenn unser wirkliches Problem nicht so sehr darin bestünde, dass wir nirgendwo hingehen dürfen – sondern darin, dass wir nicht das ausschöpfen können, was uns bereits zur Verfügung steht?

Zu Hause eingesperrt zu sein, birgt eine Reihe spannender Vorteile. Der erste liegt darin, dass wir zum Reflektieren ermutigt werden. Auch wenn wir uns das nicht gerne eingestehen, praktizieren die wenigsten von uns regelmäßig diese eigenständige, einsame und wagemutige Art des Denkens, die uns neue Kraft spenden und unser Leben voran bringen kann. Die neuen Gedanken, über die wir stolpern könnten, wenn wir unseren eigenen Verstand ambitionierter erkunden, während wir auf dem Sofa liegen, könnten unseren mentalen Status quo bedrohen. Ein neuartiger Gedanke könnte uns zum Beispiel plötzlich von Dingen entfremden, die den Menschen um uns herum als normal erscheinen. Oder er könnte die Erkenntnis bringen, dass wir in einer wichtigen Frage in unserem Leben vielleicht schon lange den falschen Ansatz verfolgen. Wenn wir eine bestimmte neue Idee ernst nehmen, müssen wir vielleicht eine Beziehung aufgeben, eine Arbeitsstelle kündigen, einen Freund abservieren, uns bei jemandem entschuldigen, unsere Sexualität überdenken oder mit einer Gewohnheit brechen.

Aber eine Zeit des stillen Nachdenkens in unserem Raum schafft eine Gelegenheit, bei der der Geist sich selbst ordnen und verstehen kann. Ängste, Ressentiments und Hoffnungen lassen sich leichter benennen; wir haben weniger Angst vor den Inhalten unseres eigenen Geistes – wir werden weniger verstimmt, sind ruhiger und klarer über die Richtung, in die wir uns bewegen wollen. Wir beginnen, in zögerlichen Schritten, uns selbst etwas besser kennen zu lernen.

Eine andere Sache, die wir in unseren eigenen Räumen tun können, ist es, zu Reisen zurückzukehren, die wir bereits unternommen haben. Das ist keine besonders populäre Idee. In der Regel werden wir von alles Seiten angespornt, neue Reiseerfahrungen zu machen. Der Gedanke, eine Reise in unserer Erinnerung noch einmal zu machen, klingt ein wenig befremdlich – oder schlicht traurig. Das ist äußerst schade. Wir sind höchst nachlässige Kuratoren unserer eigenen Vergangenheit. Wir verstauen die wichtigen Begebenheiten, die uns passiert sind, ganz hinten in der Abstellkammer unseres Bewusstseins und erwarten nicht unbedingt, uns jemals wieder mit ihnen auseinanderzusetzen.

Aber was wäre, wenn wir die Prestige-Hierarchie ein wenig verändern und argumentieren würden, dass das regelmäßige Eintauchen in unsere Reiseerinnerungen ein entscheidender Teil dessen sein könnte, was uns stützen und trösten kann – und nicht zuletzt vielleicht die billigste und flexibelste Form der Unterhaltung. Wir sollten es für fast ebenso prestigeträchtig halten, zu Hause zu sitzen und über eine Reise nachzudenken, die wir einmal auf einer Insel unternommen haben, wie mit unseren schwerfälligen Körpern tatsächlich über die Insel zu wandern.

Im Umgang mit unseren Erinnerungen sind wir wie verwöhnte Kinder, die nur einen Teil der Freude aus Erlebnissen herausquetschen und sie dann zur Seite werfen, um woanders neuen Nervenkitzel zu suchen. Ein Grund dafür, dass wir so viele neue Erfahrungen brauchen, ist vielleicht einfach, dass wir unsere Erlebnisse so schlecht verarbeiten können.

Um uns besser auf unsere Erinnerungen zu konzentrieren, brauchen wir nichts Technisches. Wir brauchen ganz sicher keine Kamera. Es gibt bereits eine Kamera in unseren Köpfen: Sie ist immer eingeschaltet, sie nimmt alles auf, was wir jemals gesehen haben. Riesige Brocken an Erfahrung schlummern in unseren Köpfen, intakt und lebendig. Sie warten nur darauf, dass wir uns Fragen stellen wie: “Wo sind wir nach der Landung hingefahren?” oder “Wie war das erste Frühstück?“ Wir können allein durch die Kunst der Erinnerung mit so vielem von dem, was sie angenehm gemacht hat, in Kontakt bleiben. Wir sprechen ständig von der virtuellen Realität. Dabei brauchen wir keine Gadgets. Wir haben die besten Virtual-Reality-Geräte bereits in unseren eigenen Köpfen. Wir können – jetzt sofort – unsere Augen schließen und in die schönsten, tröstlichsten und lebensverbessernden Teile unserer Vergangenheit reisen und dort verweilen.

Wir neigen zum Reisen, weil wir im Grunde glauben, dass ein Erlebnis in der Realität natürlich besser sein muss als ein geistiges Bild, das wir uns zu Hause davon machen. Aber es gibt etwas an der Funktionsweise unseres Geistes, das wir gut verstehen sollten, wenn wir traurig darüber sind, dass wir nirgendwo hingehen können: Es wird immer etwas geben, dass unseren Blick auf das Ziel verstellt, zu dem wir reisen. Etwas, das so verzwickt und mächtig ist, dass es den Zweck, warum wir überhaupt zu Hause weggegangen sind, untergraben kann, nämlich: uns selbst. Es ist ein unausweichlicher Makel, dass wir uns selbst an jedes Ziel mitnehmen, das wir jemals besuchen. Und das bedeutet, dass wir all das mentale Gepäck mitbringen, das unser Dasein Tag für Tag so problematisch und schwer erträglich macht: all die Angst, das Bedauern, die Verwirrung, die Schuldgefühle, die Reizbarkeit und die Verzweiflung. Nichts von dieser Selbstverleumdung ist da, wenn wir uns für ein paar Minuten auf eine Reise in unserem Kopf begeben. In der Vorstellung können wir ungetrübte Ansichten genießen. Aber vor Ort, am Fuße des goldenen Tempels oder hoch oben auf dem mit Kiefern bedeckten Berg, stellen wir fest, wie viel von “uns” unsere Sichtweise verzerrt. Wir ruinieren unsere Reisen durch die folgenschwere Angewohnheit, uns selbst mitzunehmen. Hier ist eine tragisch-komische Ironie am Werk: Die gewaltige Arbeit, uns physisch an einen Ort zu begeben, wird uns nicht unbedingt dem Kern dessen näher bringen, was wir suchen. Wir sollten uns selbst daran erinnern, dass wir vielleicht schon das Beste, was ein Ort zu bieten hat, genießen können, wenn wir einfach nur über ihn nachdenken.


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Wenden wir uns einem anderen französischen Denker mit einer vergleichbaren Philosophie zu. Im Frühjahr 1790 schloss sich ein siebenundzwanzigjähriger Schriftsteller namens Xavier de Maistre zu Hause ein und beschloss, die Wunder und die Schönheit dessen, was ihm am nächsten lag, zu studieren. Sein Werk nannte er „Reise um mein Zimmer“.

De Maistre schließt seine Tür ab und zieht sich einen rosa und blauen Pyjama an. Ohne Gepäck “reist” er zum Sofa, dem größten Möbelstück im Raum, das er mit frischen Augen betrachtet und neu würdigt. Er bewundert die Eleganz seiner Füße und erinnert sich an die angenehmen Stunden, die er, in seine Kissen gebettet, und von Liebe und beruflichem Erfolg träumte. Von seinem Sofa aus erspäht de Maistre sein Bett. Wieder einmal lernt er aus der Sicht eines Reisenden dieses komplexe Möbelstück neu zu schätzen. Er ist dankbar für die Nächte, die er darin verbracht hat, und ist stolz darauf, dass seine Laken fast zu seinem Schlafanzug passen. “Ich rate jedem der kann, sich rosa und weiße Bettwäsche zu besorgen”, schreibt er, “denn diese Farben bescheren empfindlichen Schläfern ruhige und angenehme Träume“.

Wie verspielt auch immer, de Maistres Werk entspringt einer tiefen und eindringlichen Einsicht: dass die Freude, die wir am Reisen haben, vielleicht mehr von der Mentalität abhängt, mit der wir reisen, als von dem Ziel. Wenn wir nur eine Reisementalität auf unsere eigenen Räume und die unmittelbare Nachbarschaft übertragen könnten, könnten diese Orte für uns nicht weniger interessant sein als fremde Länder. Was macht also diese Reisementalität aus? Aufnahmefähigkeit, Wertschätzung und Dankbarkeit könnten ihre Hauptmerkmale sein. Und, was entscheidend ist, um auf diese Weise zu denken, müssen wir nicht erst in die Ferne gehen.

Ein Spaziergang ist die kleinste Art von Reise, die wir jemals unternehmen können. Sie verhält sich zu einem normalen Urlaub wie ein Bonsai-Baum zu einem Wald. Aber selbst wenn es nur ein achtminütiger Ausflug um den Block oder ein paar Augenblicke in einem nahe gelegenen Park sind, ist ein Spaziergang bereits eine Reise, in der viele der größeren Elemente des Reisens präsent sind.

Auf einem solchen Spaziergang könnten wir vielleicht eine Blume erblicken. Es fällt uns schwerer, sich richtig an Blumen zu erfreuen, je leichter es wird, gelegentlich in Richtung eines anderen Kontinents abzuheben. Es gibt so viele größere, grandiosere Dinge, mit denen man sich beschäftigen kann, als diese kleinen, zerbrechlichen Manifestationen der Natur. Es ist jedoch selten, dass Blumen einen völlig kalt lassen, wenn die Welt dramatisch kleiner geworden ist und eine weltumfassende Traurigkeit in der Luft liegt. Blumen scheinen nicht mehr wie eine kleinliche Ablenkung von einem mächtigen Schicksal, nicht mehr wie eine Beleidigung unserer Ambitionen, sondern wie ein echtes Vergnügen inmitten einer Litanei von Schwierigkeiten, eine Einladung, Ängste auszuklammern, eine kleine Ruhestätte der Hoffnung in einem Meer von Schwierigkeiten.

Möglicherweise entdecken wir bei einem Spaziergang vor Ort ein kleines Tier: eine Ente oder einen Igel. Sein Leben geht völlig unberührt von unserem weiter. Es ist ganz seinen eigenen Zielen gewidmet. Die Gewohnheiten seiner Spezies haben sich seit Jahrhunderten nicht geändert. Wir schauen ihn vielleicht aufmerksam an, aber er ist nicht im Geringsten neugierig darauf, wer wir sind; von seinem Standpunkt aus sind wir in das unermessliche Nichts von Dingen vertieft, die nicht verstanden und gewusst werden können. Eine Ente nimmt ein Stück Brot genauso gerne von einem Kriminellen wie von einer Richterin des obersten Gerichts an; von einem Milliardär wie von einem bankrotten Ganoven; unsere Individualität ist aufgehoben, und an bestimmten Tagen kann das eine enorme Erleichterung sein.

Auf unserem Spaziergang um den Block begegnen uns Themen, die wir aus den Augen verloren hatten – unsere Kindheit, ein seltsamer Traum, den wir kürzlich hatten, ein Freund, den wir seit Jahren nicht mehr gesehen haben, eine große Aufgabe, von der wir uns immer gesagt hatten, dass wir uns ihrer annehmen würden. Physisch gesehen haben wir kaum eine Strecke zurückgelegt, aber wir durchqueren ein großes geistiges Gebiet. Kurze Zeit später sind wir wieder zu Hause. Niemand hat uns vermisst oder vielleicht sogar bemerkt, dass wir unterwegs waren. Doch wir sind auf subtile Weise anders: eine etwas vollständigere, visionärere, mutigere und phantasievollere Version der Person, die wir zu sein wussten, bevor wir klugerweise unsere bescheidene Reise unternommen haben.

Wir werden – eines Tages – unsere Freiheiten zurückgewinnen. Die Welt wird wieder uns gehören, und wir werden wieder in ihr umherstreifen. Aber in Zeiten der Isolation könnten wir, ungeachtet der offensichtlichen Unannehmlichkeiten, etwas von dem zu schätzen lernen, was uns gewährt wird, wenn wir unsere gewohnten Freiheiten verlieren. Es kann kein Zufall sein, dass viele der größten Denker*innen der Welt ungewöhnlich viel Zeit allein in ihren Räumen verbracht haben. Das Schweigen gibt uns die Möglichkeit, vieles von dem wertzuschätzen, was wir im Allgemeinen sehen, ohne es jemals richtig zu bemerken; und die Dinge zu verstehen, die wir gefühlt, aber noch nicht angemessen verarbeitet haben.

Wir wurden nicht nur eingesperrt, sondern wir haben auch das Privileg erhalten, eine Reihe unbekannter, manchmal beängstigender, aber im Grunde wundersamer innerer Kontinente bereisen zu können.


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By The School of Life

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