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Die kleine Freude, in “schlechten” Zeitschriften zu blättern

Die kleine Freude, in “schlechten” Zeitschriften zu blättern

Sie sind nicht im engeren Sinne schlecht – es ist nicht so, dass diese Zeitschriften tatsächlich gefährlich und bösartig wären, sondern sie sind schlecht in einem intimeren, persönlichen Sinn: Es wäre uns peinlich, wenn unsere Bekannten wüssten, wie sehr wir es genießen, sich von Zeit zu Zeit in diese Seiten zu vertiefen. Andere Leute lesen sie ganz offen – aber Sie können das nicht. Sie würden wahrscheinlich schon davor zurückschrecken, eine solche Zeitschrift auch nur zu kaufen. Es wäre Ihnen sehr peinlich, wenn Sie an einem Zeitungskiosk auftauchten,  und  sich  die  Ausgabe  einer  Zeitschrift  griffen, die sich an Menschen des anderen Geschlechts richtet. Eine Zeitschrift,  die  einen  sozioökonomischen  Status  andeutet, der sich sehr von Ihrem unterscheidet, eine Zeitschrift, die so gar nicht im Einklang mit Ihren üblichen Weltanschauungen steht. Aber im Wartezimmer beim Zahnarzt, bei einem Freund auf der Toilette oder im Flugzeug können Sie ohne Angst einen Blick hineinwerfen.

Es könnte befremdend wirken, dass Sie diese Zeitschriften überhaupt lesen. Sie erfahren etwas über Investitionsstrategien auf dem spanischen Immobilienmarkt, obwohl Sie gerade mal so Ihre Miete zahlen können. Sie bekommen Ratschläge, was Sie tun könnten, wenn ein Junge, der zuerst Sie geküsst hat, auf der gleichen Party eine andere küsst. Dabei ist es wirk- lichschon Jahre her, dass Sie auf einer Party waren, wo so etwas auch nur im Entferntesten denkbar war! Sie beschäftigen sich damit,  welches  Hochgeschwindigkeits-Motorboot  Sie  kaufen würden, obwohl Sie bestimmt nie ernsthaft in die Verlegenheit kommen werden. Oder Sie vertiefen sich in einen kritischen Vergleich über Campingplätze für Wohnwagen in Nordwales unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Sanitäranlagen,  der Einstellung gegenüber Haustieren und der Angebote für über Sechzigjährige, obwohl Sie doch gar nicht gerne campen.


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Dieses  Vergnügen  ist  echt,  aber  ein  wenig  rätselhaft.  Ein Grund  das  zu  erklären,  ist,  dass  wir  in  diesen  Zeitschriften unterschiedlichen Arten des Lebens begegnen. Das Leben, das wir führen, ist nämlich nur ein winziger Splitter dessen, was in unserer Fantasie möglich ist. Wäre in der Vergangenheit auch nur  eine  Kleinigkeit  anders  gelaufen,  würden  wir  vielleicht heute ein vollkommen anderes Leben führen. Wir hätten uns in jede Menge Richtungen entwickeln können. Es gibt da einen Teil von mir, der vielleicht die Freiheit des Wohnwagenlebens geliebt, oder es genossen hätte mit einem Motorboot anzugeben. In der Natur eines jeden Menschen gibt es Reste von Anlagen, die sich unter anderen Umständen anders hätten entwickeln können: zu einem Cocktailtrinker, einem Tycoon oder zu einem begeisterten Schachspieler. Genau daher rührt unser Zwiespalt. Wir wollen dem Menschen gegenüber, der wir geworden sind, loyal sein, aber wir spüren zugleich, dass eine Vielzahl von Personen in uns schlummert. Es gibt viele alternative Versionen von uns selbst, die irgendwo in unserem Hinterkopf ein Schattendasein führen, und es ist schön, ein paar von ihnen ans Licht zu holen.

Wir entwickeln beim Lesen auch eine gewisse Verbundenheit mit anderen. Eine Zeitschrift, die wir schlecht finden, wird von anderen Menschen sehr geschätzt – die Auflagen solcher Zeitschriften sind oft viel höher als die von Publikationen, die wir für gut halten. Wir stoßen wieder einmal auf den grundlegenden Gedanken, dass wir in Wirklichkeit sehr viel mehr mit anderen gemeinsam haben, als wir manchmal glauben. Die Ängste, die rund um unseren Status kreisen – Verachtung und Furcht  –  sind vorübergehend ruhiggestellt.  Man kann kurz eintauchen in die Sorgen und Hoffnungen von Menschen, deren Leben in vielerlei Hinsicht radikal im Widerspruch zum eigenen Leben steht. Ein paar Minuten lang entwickeln wir eine universellere Fähigkeit zum Mitgefühl. Wenn wir das Wissen um diese kleine Freude im Hinterkopf halten, werden wir ein wenig  großzügiger und weniger abschätzig urteilen als zuvor.

Die Seiten dieser Zeitschriften zu überfliegen ist ein wohlwollendes Vergnügen: Man ist eine Zeit lang aus dem Schneider; man muss sich keine Gedanken um die Konsequenzen machen; man muss kein guter Mensch sein. Teile von uns selbst sind weniger klug, weniger kontrolliert, weniger ernsthaft, weniger verantwortungsbewusst, weniger realistisch als das Ich, das man normalerweise sein muss, weil es die Reife nun mal erfordert.

Ein ganz wichtiger Teil dieser Freude besteht darin, dass wir die Zeitschrift schon sehr bald wieder zuschlagen und weglegen können. Es geht hier um kein heftiges Verlangen, wir sind nichtsüchtig danach. Es ist eine kleine Freude des Alltags –und keine, die uns überwältigt, die uns unsere Freiheit zu rauben droht, wenn wir sie beiseitelegen.

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch von The School of Life “Kleine Freuden – Großes Glück” erschienen im Verlag Süddeutsche Zeitung Edition. Preis 18 €. Das Buch ist erhältlich in unserem Shop in der Lychener Str. 7 in Berlin, bei SZ Edition und natürlich im Buchhandel. 


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