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Der Charme der Verletzlichkeit

Der Charme der Verletzlichkeit

Der Wunsch dazuzugehören ist tief in uns verwurzelt. Wir sind soziale Wesen mit einer langen Evolutionsgeschichte, die immer Wert darauf gelegt hat, innerhalb einer Gruppe nicht hervorzustechen. Der Nichtangepasste war stets der Letzte, der seinen Anteil am Fleisch des Mammuts bekam. Wir dagegen sind die Nachkommen derjenigen, die sich immer regelkonform verhalten und genug vom Essen abbekommen haben.

Es ist nachvollziehbar, wenn wir verlegen – und auch sehr einsam – werden, sobald es um unsere Eigenheiten geht. Wir sind unwillig, uns selbst einzugestehen, was an uns ungewöhnlich ist. Wir kontrollieren, was wir sagen, und bemühen uns, gewöhnlicher zu erscheinen, als wir es in Wirklichkeit sind. Wir sagen vielleicht, dass wir Fußball mögen, weil man als Mann nun mal kaum etwas anderes sagen kann. In der Bar fühlen wir uns genötigt, einen Whiskey zu bestellen, denn es wäre doch recht irritierend, wenn wir uns zu unserem wirklichen Wunsch bekennen würden, nämlich einem Glas Milch. Vielleicht gehören wir zu der Handvoll Erwachsener, die sich für Spielzeugeisenbahnen interessieren und einem Verein beigetreten sind, um mehr darüber zu erfahren; vielleicht glauben wir auch fest, dass eine altmodische Uhr die Intensität beim Sex steigert; oder wir besichtigen während unseres Urlaubs insgeheim gern Hydrochemie-Anlagen. Wenn wir zu alldem noch andere Aspekte unseres Lebens mit einbeziehen, dann wird es noch bunter. Beim führenden Anwalt einer Kanzlei für Steuerrecht wirkt es besonders ungeschickt, wenn er ein Interesse am Sozialismus bekundet. Wenn jemand Ingenieurswissenschaften studiert, kann es heikel werden, seinen Kommilitonen zu verkünden, er wäre am liebsten Puppenmacher geworden; und als Flugbegleiter kommt es bei den Kollegen unter Umständen nicht so gut an, wenn jemand dauernd über seine Bewunderung für die Romane von Benjamin Disraeli spricht.


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Diese Heimlichtuerei erklärt, warum wir so entzückt sind, wenn es endlich jemand wagt, auch öffentlich ein wenig merkwürdig zu sein: wenn er zum Beispiel erklärt, dass Sportwagen oder der russische Präsident ihn sexuell erregen; oder wenn er eine solche Panik vor Keimen hat, dass er die Türen öffentlicher Toiletten immer nur mit dem Fuß aufstößt; wenn er sagt, ohne dabei rot zu werden, dass er das ganze Wochenende geheult hat, weil seine Karriere schiefgelaufen ist; oder wenn er online heftig mit jemandem flirtet, der fast doppelt so alt ist wie er und auf einem anderen Erdteil lebt.

Dabei muss der Zuhörer noch nicht einmal die gleichen Gewohnheiten oder Interessen teilen. Das freudige Gefühl, das solche Enthüllungen in uns hervorrufen, entsteht, weil sie uns gestatten, auch unsere eigenen seltsameren Seiten ans Licht zu bringen. Die vertrauliche Mitteilung des Bekennenden ermutigt uns dazu, uns mit unseren bisher geleugneten Gefühlen wohler zu fühlen. Weil sich diese Menschen ihrer merkwürdigen Seite bewusst sind und sie ganz in Ordnung finden, eröffnen sie uns eine Möglichkeit, die auch wir nutzen können, wenn es um unsere Eigenarten geht. Durch ihren Mut, sich zu äußern, schaffen sie ein genaueres und tröstliches Bild der menschlichen Natur: eines, das sich der Tatsache bewusst ist, dass wir, statistisch gesprochen, alle in einigen Aspekten wunderlich sind. Es ist extrem normal, ziemlich unnormal zu sein.

Der selbstbewusste Mensch, der solch ein Geständnis ablegt, ist sich sicher, dass wir alle genauso merkwürdige, aber sehr unterschiedliche Dinge anstellen. Und diese ungewöhnlichen Dinge, legt er nahe, sind vollkommen vereinbar mit einem netten Menschen, der Liebe verdient. Dadurch, dass er seine eigenen Besonderheiten heiter akzeptiert, durchbricht er eine geradezu erdrückende Verknüpfung: dass man sein muss wie alle andern, damit die Leute einen nett finden. Ein Gedanke, der viel zu oft wie ein Damoklesschwert über uns hängt.

Entwaffnende Offenheit ist nicht nur einnehmend, wenn man ihr begegnet; sie zeigt uns auch den Weg in eine weit weniger einsame Zukunft.

[Auszug aus unserem Buch “Freundlichkeit”, erschienen im Verlag Süddeutsche Zeitung Edition]

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